Premiere im Kieler Schauspielstudio: David Greigs „Gelber Mond – Die Ballade von Leila und Lee“

Von Christoph Munk

Kiel. „Kommst du oder kommst du?“ Schon die Art, wie Lee fragt, macht deutlich, dass Leila keine andere Möglichkeit hat. Das stille Mädchen wird dem Jungen folgen, heraus aus dem leeren Alltag, hinein in die Wildnis und hin zu sich selbst. Eindeutig, klar und konsequent. So wie sich die junge Regisseurin Jimena Echeverri-Ramirez ihren Weg durch das Textgestrüpp von David Greig bahnt und darum für ihre Inszenierung von „Gelber Mond – Die Ballade von Leila und Lee“ im Studio des Kieler Schauspiels viel, viel Beifall findet.

Schaukel, Rutschbahn, kleines Karussell, herbstbunte Blätter auf dem Boden. Ein Spielplatz. Was ist das schon? Kinderspielplatz. Ort zum Abhängen. In seinem schwarzen Hoodie hockt einer maulig auf der Erde. Drüben wippt ein dünnes Ding auf seinem Federtier. Nix weiter los. Auf einer Bank am Rande sitzt ein Erwachsener. Ein Spanner? Harmloser Spaziergänger? Oder was? Er weiß jedenfalls Bescheid:

„Das ist Lee Macalinden“, sagt er. „Das ist Lee Macalindens Mütze“. Er trage sie, seit er fünf ist, mit ihrem Hirsch-Zeichen. Darum nennen sie ihn Stag – Hirsch. – Die da drüben, „das ist Leila Suleiman. Leila sagt nicht viel“, kommt aber aus besserem Hause, während Lee keinen Vater mehr hat und seine Mutter sich immer mal wieder mit ein paar Flaschen Wodka, einer Stange Zigaretten und einer alten A-Ha-Kassette in ihre Depression fallen lässt. Dieser Mann auf der Bank weiß das alles. Und Christian Kämpfer erzählt es so verständnisvoll im Sozialarbeiter-Ton, dass niemand überrascht sein kann. Auch nicht als Billy, der neue Freund von Lees Mutter, von Marko Gebbert pädagogisch dermaßen derb auf die Bühne geknallt wird, dass ihn der Junge prompt im Streit ersticht.

Jetzt muss Lee weg. Flucht ins schottische Hochland, gleichzeitig Suche nach dem verschollenen Vater. Und Leila kommt mit, weil sie endlich das Gefühl verspürt, in einer Geschichte zu sein. Gemeinsame Schritte in unbekannte Welten: Bergwildnis, Nacht, Kälte, Gefahrenzonen, Unsicherheit, Verwirrung. Doch auf Maria Rehwagens Bühne bleiben die Spielgeräte fest installiert. Immerhin schaffen Lichteffekte, Nebel und Geräusche so etwas wie unheimliche Atmosphäre und Raum für eigene Phantasiebilder. Dagegen sorgt der Mann vom Spielplatz als solider Erzähler immer wieder für eine schöne Ordnung. Indem er flüssig durch die Handlung führt, hält er sie stets auf der Ebene von Wahrscheinlichkeit und Plausibilität. Nichts erscheint fraglich, nichts nur vielleicht möglich oder ist nur vermutlich wahr. Alles lässt sich real nachvollziehen. Sichere Sache.

Umso mehr müssen die Schauspieler leisten: Marko Gebbert, der bald aus dem Dickicht als Wildhüter Frank auftaucht, bringt endlich mehr mit als ein breites Kreuz und den Brustton der Überlegenheit. Er lässt ahnen, dass hinter der Fassade des notorischen Whiskytrinkers die Wunden eines verlorenen Lebens offen liegen. Jennifer Böhm befreit langsam die stille Leila aus dem Gefängnis ihres Schweigens und zeigt eine junge Frau, die zu sich selbst und zu ihrer Stärke findet. Und Rudi Hindenburg löst den Lee nach und nach aus seinem Kapuzenpulli und damit aus den Mustern des problematischen Sozialfalls. Immer deutlicher lässt er einen Jungen aus Trotz und Träumen entstehen, einen, den die Sehnsucht nach dem Vater treibt, weil sonst sein Leben unvollständig bliebe.

Für eine kurze Phase findet Lees Suche und mit ihr die Geschichte ihr Ziel. Und da dürfen die im Laufe des Spiels verwandelten Figuren der Wirklichkeit entkommen und so etwas wie Erlösung erfahren und Momente des Glücks. Nicht auf Dauer. Denn Jimena Echeverri-Ramirez zwingt mit Hilfe ihres gut informierten Erzählers das Geschehen zurück in die Realität. So wird es Gewissheit: Polizeihubschrauber, Lee gibt auf. Die üblichen Konsequenzen. Keine Zweifel am Ende, keine Irritation. Wie in einer Vorstadt-TV-Doku landet die Inszenierung nüchtern auf dem Boden der Tatsachen. So legt sie Zeugnis ab von einer beachtlichen, sauberen Regieleistung. Sie scheut sich allerdings vor zu viel Nähe zum Blues, an den der Autor David Greig erinnert. Nimmt Abstand zum viel besungenen Mythos des Stagger Lee, dem die Hauptfigur ihren Namen verdankt. So gesehen: Ließe sich „Gelber Mond“ nicht noch schöner als mutig-romantische „Ballade von Leila und Lee“ erzählen?