Im Kieler Schauspiel wird der Mythos des Erotikhelden „Don Juan“ entzaubert

Von Christoph Munk

Kiel. Tragödien und Komödien, Opern, Ballette und Tondichtungen, Essays, Romane und Erzählungen – seit Jahrhunderten hat sich die europäische Kultur am archetypischen Charakterbild des gewaltigen, erotischen Verführers abgearbeitet und sich eine ihrer großen mythischen Figuren geschaffen. Geschenkt!

Mit einem knappen, illusionslosen Theaterstreich holt jetzt das Kieler Schauspiel unter der Regie von Ingo Putz den ewigen Frauenhelden vom Sockel: Von seinem „Don Juan“ – einer Montage aus Texten von Tirso des Molina, Moliére und Max Frisch – bleibt aus heutiger Sicht nur ein ausgebrannter, müder Ritter von trauriger Gestalt.

Lustvoller Genuss am erotischen Abenteuer sieht anders aus. Eben noch hat er, musikalisch angefeuert, die fürstliche Isabella beglückt, doch schon ist ihm fad ums Herz. Rudi Hindenburg lässt seinen Don Juan irgendwie melancholisch herumstehen. Gewiss, Diener Leporello tröstet. Und der König von Neapel und Don Octavio bringen den Herrn auf Trab. Aber so richtig lustig entwickelt sich die Angelegenheit eher nicht. Tisbea, von Jessica Ohl als leckeres Hippiemädchen gegeben, verführt abermals zu kräftigen Liebesstößen, Isabel Baumert lockt in Gestalt von Donna Anna mit Flamenco-Kitsch und diverse beschupste Adelige zündeln mit Rachegedanken. So diktieren eben die Texte von Tirso de Molina (1630) und Molière (1665) Muster und Takt der Handlung. Doch Regisseur Ingo Putz animiert das weniger zum Spaß am Komödienspiel als zur mühevollen Abwicklung der Regelmechanik.

Wie sollte es auch anders sein? Dieser Don Juan zieht ja weder Neid noch Bewunderung auf sich. Mit seinem schrottreifen Wohnmobil ist er in der Banalität, irgendwo in einer Campingwüste gelandet. Dort erobert er nichts. Er nimmt, was kommt. Vielleicht – so lassen die theaterbunten Kostüme der Ausstatterin Mirjam Benkner vermuten – hat sich in der Nähe eine Schaustellertruppe angesiedelt. Von dort jedenfalls scheint das Personal zu stammen, das bei Don Juan und Leporello – Yvonne Ruprecht in seltsam doppelgeschlechtlicher Dienerfigur – regelmäßig aufkreuzt – und zunehmend für Verdruss sorgt. Zacharias Preens herumbrüllende Könige gehören dazu oder Felix Zimmers halbelegant gestocherte Adlige.

Unter diesen Verhältnissen folgt Don Juan immer weniger seinem inneren Trieb als den äußeren Ereignissen. Dem Schürzenjäger verkommt Liebeslust zur lästigen Gewohnheit. Gelegenheit für einen Zeitsprung und für einen Darstellerwechsel. Der Weiberheld kommt in die Jahre. Imanuel Humm zeigt an ihm die Spuren des gesetzten Alters. Hemmungslos schmiert er sich an Damen aus dem Publikum an, charmiert nach Platzhirschen-Art und hängt so ganz und gar den Schwätzer heraus, der von glorreicher Vergangenheit zehrt und gegenwärtig seinen Biss verloren hat. In seine trivialen Töne des Schmeichelns mischen sich – von Molière trefflich abgelauscht – die falschen Klänge des Heuchlers. Daraus ergibt sich eher ein trüber, als ein schön trauriger Gesang.

Der alte Don Juan schließlich, der reife, abgeklärte Senior holt sich seine Würde zurück. Denn Rainer Jordan zeigt ihn wundersam unberührt von all den Attacken, die ihn aus seinem früheren Leben einholen wollen. Im letzten Abschnitt – inspiriert vom Max Frisch-Text „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ – scheint Juan seinen Frieden zu finden, wenn auch nicht unter der Obhut der inzwischen von Anges Richter schön zur Ruhe gebrachten Isabella.

Alles fügt sich in logischer Konsequenz: drei Autoren, drei Lebensalter, drei Darsteller. Klares Ding. Doch der Schein trügt. Seltsam zögernd stellte sich das Ensemble in ein Halbrund, aus dem kein richtiges Schlussbild werden will. Das könnte gemeint sein wie das Finale in Mozart/da Pontes „Don Giovanni“, wo die Hinterbliebenen bemerken, dass sie ihr Energiezentrum verloren haben. Es wirkt aber auch wie die Beklemmung einer Truppe, die spürt, dass Stilsicherheit, Prägnanz, Witz, Spieltempo, Geschmack, Charakterzeichnung, Leidenschaften nicht ganz ausreichten, den Sturz ihres Helden zu begründen. Matte Sprengkraft, kernloses Spiel. Infolgedessen: lauer Applaus.