Der litauische Autor Alvydas Šlepikas stellte im Literaturhaus sein Buch „Mein Name ist Marytė“ vor

Von Hannes Hansen

Die Frau, die auf den litauischen Namen Marytė hörte, hieß als Kind einmal Renate. Sie war die Tochter von Deutschen, ein Mädchen, das nach dem Ende des zweiten Weltkriegs auf der Suche nach Nahrung und einer Bleibe aus Ostpreußen ins damals sowjetische Litauen ging. „Wolfskinder“ nannte man Kinder wie sie; sie waren Waisen oder wurden von ihren Eltern über die Grenze geschickt, um sie vor dem Verhungern zu schützen. Die manchmal erst Fünfjährigen und die Halbwüchsigen bettelten bei Bauern oder in der Stadt um Essen und eine Unterkunft. Um bei den sowjetischen Behörden und den Nachbarn nicht als Kinder von „Faschisten“ auffällig zu werden oder gar in sibirische Sammellager verschleppt zu werden, verloren sie ihre deutschen Namen und bekamen litauische.

Von dem weitgehend vergessenen Schicksal dieser Wolfskinder erzählt Alvydas Šlepikas in seinem im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Buch „Mein Name ist Marytė“.  Die ganze Bandbreite ihrer Erlebnisse schildert der Autor, der in Litauen auch als Lyriker, Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur bekannt ist. Manche „kleine Deutsche“, wie man sie auf Litauisch nannte, wurden freundlich, ja liebevoll aufgenommen und adoptiert, andere als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, sexuell missbraucht und als Faschisten verunglimpft. Wieder andere verhungerten oder erfroren auf der Straße oder im Wald, in den sie sich vor den Soldaten der Roten Armee geflüchtet hatten.

Alvytas Slepikas (re.) im Gespräch mit Markus Roduner Foto: Bressot-Carton

Alvydas Slepikas (re.) im Gespräch mit Markus Roduner
Foto: Bressot-Carton

Alvydas Šlepikas stellte am Donnerstagabend „Mein Name ist Marytė“ in einer Lesung im Literaturhaus vor. Das vor drei Jahren erschienene Original, aus dessen deutscher Übersetzung der Kieler Nils Aulike zwei Passagen las, wurde, wie sein Übersetzer Markus Roduner, der durch den Abend führte, erzählte, in Litauen zum Sensationserfolg. Von seinen Lesern zum „Buch des Jahres“ gewählt, liegt es bereits in fünfter Auflage vor. Auf der Grundlage von Hunderten von Gesprächen, die der Autor mit ehemaligen Wolfskindern und ihren Angehörigen führte, entstanden, war es zunächst als Drehbuch für einen Film konzipiert, der aus Geldmangel nicht gedreht wurde. Seine Stärke ist, dass der Autor von den Schicksalen der Wolfskinder nicht in der Form dürrer Dokumentation erzählt. In abwechselnd lakonischer und hochverdichteter poetischer Sprache lässt er seinen kleinen Helden und Opfern Gerechtigkeit widerfahren. Man meint, den Angstschweiß der Frauen und Mädchen bei der Begegnung mit betrunkenen Soldaten zu riechen, den in den Eingeweiden wühlenden Hunger, die beißende Kälte des Winters, die Schläge, die die Kinder im Kampf um das bisschen Essen erhalten und austeilen, zu spüren, ihre Verzweiflung und ihren zähen Überlebenswillen zu empfinden.

Der Abend im Literaturhaus war weitgehend einem Gespräch zwischen Autor und Übersetzer gewidmet. Das Thema wurde zu lebendiger Anschauung, als ein Zuhörer, ein ehemaliges Wolfskind, aufstand und von eigenen Erlebnissen aus jener nur scheinbar fernen Vergangenheit erzählte. Nicht nur in diesem Augenblick erwies sich „Mein Name ist Marytė“ als Versuch, einer verlorenen und vergessenen Generation, die der Wolfskinder, eine Identität zu geben, wie Alvydas Šlepikas in einem vor zwei Jahren mit der „Deutschen Welle“ geführten Interview erklärte. Es sind nicht mehr viele dieser Verlorenen am Leben. Aber in der Erinnerung ihrer Kinder und Enkel lebt ihr Schicksal weiter.