Psychologische Studie gegen Spektakel: „Die Jungfrau von Orleans“ im Kieler Schauspiel
Von Christoph Munk
Kiel. Märchenspiel, Mittelalter-Epos, Heldengedicht, Schlachtengemälde? „Die Jungfrau von Orleans“, Friedrich von Schillers „romantische Tragödie“, ist wahrlich ein Brocken, fünf Akte mit einem Vorspiel in klassischen Blankversen. Und die Titelfigur eine beseelte, gar eine fanatische Gotteskriegerin? Wie kommt man dem Monument auf der Bühne bei? Gastregisseur Malte Kreutzfeldt gelingt das, indem er im Kieler Schauspielhaus das Stück in Stücke zerlegt und mit stilistischer Vielfalt zugänglich macht.
Vorn an der Rampe Pult und Mikro für einen Sprecher: Oliver E. Schönfeld (mit zierlichem Slick auf den S-Lauten) macht den Ansager, annonciert die Akte und streut Schillers szenische Anweisungen ein. Das schafft schon mal Distanz: Demonstration statt Illusion, episches Theater also nach Brecht’scher Manier. Sodann formiert sich das Ensemble nach Art der griechischen Antike zum Chor. Der kommentiert das Geschehen und gibt gleichzeitig dem Volk, der schweigenden Mehrheit eben, eine gemeinsame Stimme. Später beteiligt er sich an einem gewöhnlichen Konversationsstück.
Doch die theatralische Phantasie des Regisseurs Malte Kreutzfeldt – wieder sein eigener Bühnengestalter – spielt auch gern mit dem Reichtum der Bilder. Auf weiter, immer mal neu möblierter Bühne setzt er in scharf zeichenhafter Reduktion optische Signale: ein hohes Pferd für die über dem Schlachtgetümmel streitende Jungfrau, ein Kissenberg für das Hoflager des Königs, herabstürzende Stiefel für die Leiber der Gefallenen, ein langer Konferenztisch für die Krönungszeremonie, die sich zum Tribunal gegen Johanna wandelt. Da reihen sich schöne szenische Arrangements, groß und stark und oft überdeutlich.
Ebenso drastisch formt der Regisseur die von Katharina Beth markant kostümierten Figuren. Darunter einige grob skizzierte Typen wie Werner Klockows verblendet nüchterner Vater oder Marius Borghoffs satter Erzbischof oder Martin Borkerts schneidiger Talbot oder Siegfried Jacobs’ braver Du Chatel. Dazwischen schräg gestylte Karikaturen: Vor allem Christian Kämpfers schleimiger, kiffender König, Imanuel Humms ausgestellt viriler Lionel, Rudi Hindenburgs ledern kerniger Dubois, Eirik Behrends schmieriger Philipp von Burgund. Ebenso die Damen: Isabel Baumerts Sorel völlig die sinnliche Hingabe, Claudia Machts Königin Isabeau ganz die eiserne Lady.
Kreutzfeldt liebt’s eben – auch wenn er sich weitgehend an ein schwarz-weißes Farbschema mit roten Blutspuren hält – bunt. Und bei Gelegenheit auch lustig. Denn wenn ihm die kriegsstrategischen Debatten und das Schachern um die Macht lang und öde geraten, treibt er die Dialoge ins Komische. Auch das gehört zu seinem leichtfertigen, aber souveränen Blättern durch das Musterbuch des Theaterhandwerks – Verzetteln inklusive. So ganz ernst darf das nicht genommen werden. Jedenfalls nicht die Gesellschaft, die herrschende Klasse im vom Krieg versehrten Frankreich. Dahinter, immerhin, steckt eine politische Haltung.
Die Sympathie der Regie gehört unumwunden der Johanna von Orleans. Denn gegen die tolle Theaterei im szenischen Umfeld setzt er mit ihr eine sensibel ausforschende psychologische Studie. Schillers idealistisch veredelte Gestalt belässt er unangetastet, und Agnes Richter gelingt es, sie auch heutigen Maßstäben glaubhaft zu machen. Sie erspielt sich die mädchenhafte Naivität durch Schlichtheit. Sie vermeidet alles Pathetische im Ton und beseitigt so jeden Zweifel, ob sie ihre Mission einer göttlichen Sendung verdankt oder ob sie einer teuflischen Eingebung unterliegt. Agnes Richter gelingt es, die Rolle aus dem Innern zu gestalten und zu zeigen, wie sie einem ihr unbekanntem, rein seelischen Antrieb folgt. Wenn sie dann als Kämpferin hoch zu Ross erscheint, wird sichtbar, mit wie viel Not und Mühe sie sich dort hält. Wenn sie sich vor Hof behauptet, wird erkennbar, wie fremd sie sich dort fühlt. Wenn sie der (ihr verbotenen) Liebe zu Lionel verfällt, macht sie das körperlich erfahrbar – eine erste schmerzliche Erfahrung eigener Bewusstwerdung.
Von da an ist Johanna eine – ihre eigene – Gefangene. Die Regie demonstriert das mit einem der eindringlichsten Einfälle: Lionels Hemd wird an ihr zur Zwangsjacke.
Was folgt, ist eine Tortur, erträglich nur, weil Richters Spiel einfach und ohne Effekte bleibt. So darf sie, am Ende auch unbehelligt von einem auf Distanzierung bedachten Moderator, einen stillen, nahe gehenden Tod sterben: „Hinauf, hinauf!“ – frei von Mutmaßungen, ob sie denn eine begnadete Gottgesandte oder nur eine religiös aufgeheizte Kriegstreiberin ist.
Anders gesagt: Malte Kreutzfeldts Schiller-Inszenierung treibt zwar gelegentlich in Richtung Spektakel, konzentriert sich aber im Ergebnis doch auf ihre eindringlich schlicht gestaltete Hauptfigur. Auch wenn ein von der Dramaturgie gewünschter Bezug zu den Themen Gotteskrieger und Terror nicht direkt formuliert ist, gibt es genug Diskussionsstoff für den Leistungskurs Deutsch.
Weitere Aufführungen und Info: www.theater-kiel.de.
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