Ellen Dorn überzeugt im Studio des Schauspielhauses in Dominique Schnizers Bühnenfassung von Arthur Schnitzlers Erzählung „Fräulein Else“

Von Hannes Hansen

Foto: Bühnen der Landeshauptstadt

Verloren auf dem Bett: Fräulein Else (Ellen Dorn) (Foto: Bühnen der Landeshauptstadt)

Kiel. Wie das Fräulein Else so verloren auf dem Bett hockt, mit wirren Haaren und schlampig gekleidet verschreckt auf dem Fußboden kauert, wie sie in ihrem Krankenzimmer auf und ab läuft wie ein Hamster im Laufrad und ihre Not herauswispert, -flüstert, -schreit, sich wie eine billige Hure, die sie nicht ist und nicht sein will, die Lippen grellrot schminkt, ist aller Anschein bürgerlichen Anstands von ihr abgefallen und wir sehen nur noch ein armes Hascherl. Ein Brief hat sie an ihrem Ferienort in Verzweiflung gestürzt. Um ihren Vater, der Mündelgelder veruntreut hat, vor der Haft zu bewahren, bittet die Mutter sie, einen weitläufigen Bekannten um die „lächerliche Summe von Dreißigtausend“ anzugehen. Der ältere Mann ist durchaus bereit zu helfen, allerdings um einen Preis: Fräulein Else solle sich vor ihm in ihrer ganzen nackten Schönheit zeigen. Am Widerstreit der Gefühle, dem Wunsch, den Vater zu retten und dem Ekel vor dem Mann, der sie des öfteren mit begehrlichen Augen betrachtet und dessen Berührungen sie widerlich findet, zerbricht sie.

Foto: Bühnen der Landeshauptstadt

Fräulein Else schminkt sich einen grellroten Mund (Foto: Bühnen der Landeshauptstadt)

Ellen Dorn ist in Regisseur Dominique Schnizers Bühnenfassung von Arthur Schnitzlers innerem Monolog „Fräulein Else“, die zur Zeit im Studio des Kieler Schauspielhauses zu sehen ist, diese traumatisierte Tochter aus gutem Hause. Nicht mehr wie in der Erzählung eine Neunzehnjährige, die am Ende im feudalen Hotel ihrer Tante Selbstmord begeht, sondern eine junge Frau, deren letzter Zufluchtsort, mutmaßlich Jahre nach dem Vorfall, die psychiatrische Klinik ist. Auf Christian Treuners karger Bühne – ein Bett, ein Stuhl, ein Waschbecken, ein unordentlicher Kleiderhaufen vor einer Wand, auf der in Rückprojektion verschwommene Männergestalten, Emanationen ihrer Zwangsvorstellungen erscheinen – durchlebt sie wie in einer Endlosschleife immer wieder die Katastrophe, die ihr Leben zerstört hat. Dort offenbart sie ihre geheimsten Wünsche, die durchaus auch exhibitionistischer Natur sind, ihre Ängste und ihren Anpassungswillen ebenso wie ihren Trotz, ihren Drang nach Freiheit und ihre Todessehnsucht.

Auf den ersten Blick überzeugt diese Konstellation, hebt die Zeitverschiebung das Geschehen doch aus der engen Perspektive der Zwanzigerjahre, in der ein Selbstmord aus sexueller Not und innerem Zwiespalt durchaus denkbar ist – Sigmund Freud, mit dem Arthur Schnitzler in ständiger Verbindung stand, lässt grüßen –, in eine nicht näher bestimmbare Gegenwart. Andererseits ist man geneigt, sich zu fragen, wie der Transfer aus der Vergangenheit in eine Welt, in der Nacktheit und Sex zur jederzeit verfügbaren Ware geworden ist und junge Frauen durchaus robusterer Natur als Schnitzlers Fräulein Else sind, eigentlich funktionieren soll. Würde eine heutige Else nicht eher ihren Vater verwünschen – „soll der Alte doch in den Knast gehen“ – oder sich achselzuckend dem Verlangen hingeben – „Mir doch egal, ob sich der alte Bock an mir aufgeilt“ – als sich in eine Zwangsneurose zu flüchten.

Andererseits verblassen solche Einreden angesichts der grandiosen schauspielerischen Leistung Ellen Dorns, die alle Register zwischen erbarmungswürdiger Verlorenheit und heller, aufbegehrenden Wut mit traumhafter Sicherheit beherrscht, die blitzschnell zwischen kindlicher Verlorenheit und trotzigem Aufbegehren wechselt und dabei stets die Brüchigkeit ihrer Gefühle erkennen lässt. Sie füllt den trostlosen Ort ihrer Hospitalisierung mit vibrierender Energie, bis diese Welt von Schmerz als Abbild nicht nur seelischer Not, sondern eines ganzen Kosmos erscheint. Das eben ist die Magie des Theaters, die alle Einwände vergessen lässt.