Die Komödianten ernteten großen Premierenapplaus für ihre Revue
„Rockin’ Lola“
Von Jörg Meyer
Kiel. Die Nacht ist weit fortgeschritten und die Bar „Lola Blond“, wo frau sich im letzten Jahr noch am Tresen traf, schon geschlossen. Kein Problem für die Barflies Ella-Carina, Victoria und die obdachlose Rike. Für „noch ’n Lied“ ist auch die Straße die richtige Bühne, zumal sich die Ein-Mann-Band „Murphy’s Street Noise“ den drei Ladies anschließt und ihre in Songs und manchen alkoholischen „Absacker“ gegossenen Erinnerungen sensibel begleitet.

Mit Liedern durch die Nacht (v. li.): Anna Nigulis, Rafaela Schwarzer, India Eva-Maria Roth in „Rockin‘ Lola“ (Fotos Eisenkrätzer)
Bewusst wollen das ungleiche Quartett und Regisseur Christoph Munk in „Rockin’ Lola“ keine stringente Geschichte erzählen und setzen daher ganz auf das Prinzip Nummern-Revue. In der sind die Lieder so abwechslungsreich und zunächst unverbunden wie die Emotionen der Ladies. Geschichten werden dennoch erzählt: Wie das so ist, wenn man beschwippst bis trunken vom vorangegangenen „Krawall und Remmidemmi“ (Eröffnungssong von Deichkind) heimwärts torkelt und sich auf den Lippen eine Liederinnerung assoziativ an die andere reiht. In solchen Niemannsländern der Nacht scheint die Zeit still zu stehen und beschleunigt zugleich, ist der schon grauende Morgen so fern wie das längst verblichene Abendrot, rappen und rieseln die Erinnerungen als Lieder durch die Seele. Lieder erzählen keine Geschichte, sie sind selbst Geschichten.
Und über die definieren sich die Figuren. „Du wolltest nach Vesoul“, sangen einst Queen Bee, „nie nach Kiel, da geh’ ich ein“, rotzt sich Rike die Enttäuschung wütend von der Seele. Anna Nigulis gibt sie – über das Lied – als die Obdachlose, die die übrig gebliebenen Pfandflaschen wie sich selbst aus der Nacht klaubt. Dass es „keine Sterne in Athen, nur Schnaps in St. Kathrein“ gab, weiß die abgerissene Punkerbraut Victoria nicht erst von Stephan Remmler. Rafaela Schwarzer mimt sie lasziv-erotisch bis revoluzzer-frech. Und dann gesellt sich noch Ella-Carina dazu, von Ensemble-Neuzugang India Eva-Maria Roth gespielt als Dämchen im „kleinen Roten“, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Mit den Stones beschließt sie dennoch: „Let’s Spend The Night Together!“
So treffen drei Frauen ganz unterschiedlicher Herkunft und Sozialisation und deren nicht minder disparaten Lieder-Sphären aufeinander – das Spektrum reicht vom Anti-Spießer-Rap à la Marteria bis zu Friedrich Silchers Eichendorff-Vertonung „Das zerbrochene Ringlein“, von „Lili Marleen“ bis Deichkinds „Leider geil“. Zunächst schroff gegensätzlich, sich aber immer mehr auf die gemeinsamen Vibes der Nacht eingroovend. Man könnte die scheinbar geschichtslose Nummern-Revue „Rockin’ Lola“ somit als ein sich selbst – und uns als Zuhörer – Kennenlernen über das Liedgut in unseren je eigenen Köpfen und Herzen deuten.
Zumal sich die Charaktere in ihren Liedern immer vielfältiger auffächern. Der kratzbürstigen Victoria würde man eine melancholische Liebesballade wie Rihannas „Stay“ zunächst gar nicht zutrauen, umso mehr aber, wenn sie mit Anna Depenbusch verzweifelt zum letzten Tango einer Liebe bittet. Und wer hätte gedacht, dass sich die spröde Ella-Carina gleichermaßen für Nino Rotas „Parla Piu Piano“ und Grönemeyers rock-fettige „Currywurst“ begeistern kann, dass in Rike mit „I’ll Kill Her“ von Soko eine eifersüchtige Furie steckt?

Im Gesang vereint (v. li): Anna Nigulis, Tillmann Dentler, India Eva-Maria Roth und Rafaela Schwarzer
Wie die Lieder, die in uns nachschwingen, sind wir, unsere Sehnsüchte und geheimen Wünsche offenbar vielgestaltig. Und das trennt uns weniger, als dass es uns vereint. Eine neben allem raffinierten Musik-Show-Effekt fast zu Tränen rührende Szene ergibt sich daraus, wenn Victoria, männerbreitbeinig im Einkaufswagen lümmelnd, zur Geige greift, um Right Said Freds frotzelndes „I’m Too Sexy“ zum empfindsamen Choral zu wenden. Ein schöner Regieeinfall, der den gemeinsamen Groove der Nacht ebenso auf den Punkt bringt wie Tillmann Dentlers minimalistische, nicht selten ironische, aber darin umso einfühlsamere Begleitung der Songs auf Keyboard und Gitarren.
Dass wir uns in Liedern wieder und zueinander finden können – vielleicht das schönste Resümmee der „Rockin’ Lola“ –, besiegeln nach lang anhaltendem Premierenapplaus auch die Zugaben, in die wir als Zuhörer innerlich oder äußerlich mitsummend einstimmen: John Lennons „Imagine“ und Rio Reisers „Land in Sicht“.
Weitere Aufführungen: 30. und 31.10. sowie im November und Dezember jeweils donnerstags bis sonnabends, 20 Uhr. Silvester: 18 und 21 Uhr. Karten-Tel.: 0431/553401. Infos: www.komoedianten.com.
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