Arbeiten von fünfzehn Künstlerinnen und Künstlern anlässlich der Verleihung des Gottfried-Brockmann-Preises an Constanze Vogt in der Kieler Stadtgalerie

Von Hannes Hansen

Kiel. Eine auf und ab wogende Linie, schwankend als sei sie der Horizont in Rimbauds Trunkenem Schiff, zeigt sich auf der großen weißen Wand im Eingangsbereich des Kieler Kulturforums. Ein Overhead-Projektor wirft das Bild der Schnittkante einer im Luftstrom der Kühlung zitternden transparenten Folie auf die Wand. Jeder Besucher, der an dem Projektor vorbeigeht, verstärkt das Schwanken und verändert das Bild der Linie.

Constanze Vogts Arbeit macht unmissverständlich klar, worum es in der Ausstellung anlässlich der Verleihung des Gottfried-Brockmann-Preises an die in Kiel lebende und arbeitende Künstlerin geht, nämlich, wie sie sagt, um die Zerstörung vorgefundener Wirklichkeit und ihre folgende Transformation in ein poetisches Statement.

Constanze Vogt, o.T. 2014 -2015 (Foto: Helmut Kunde)

Constanze Vogt, o.T. 2014 -2015
(Foto: Helmut Kunde)

Glattes, abweisend weißes Fotopapier bearbeitet sie unter der Nähmaschine so lange mit einem Faden, bis die ursprüngliche Funktion verloren gegangen, das Papier zerstört und in einer Metamorphose zu etwas Neuem geworden ist, dessen Bedeutung sich nur in freier Assoziation erkennen lässt. Ein poetisches Vorgehen, das den Betrachter auffordert, das Kunstwerk weiter zu denken, es gewissermaßen zu vollenden. Ähnlich verhält es sich mit einem von der Decke der Stadtgalerie hängenden großen Papierblatt, das Constanze Vogt so lange mit einem Handlocher zeilenweise bearbeitet hat, bis auf ihm rätselhafte Botschaften erscheinen. Hermetik und Herme-neutik gehen hier eine enge Beziehung ein, das „Verstehen“ wird zu einem Verständigungsprozess zwischen Kunstwerk und Betrachter.

Plakat, Gestaltung Ingo Wulf

Plakat (Gestaltung: Ingo Wulf)

Stadtgalerie-Direktor Wolfgang Zeigerer weist zu Recht darauf hin, dass dieses Prozesshafte und Poetische auch im Fokus der Arbeiten von weiteren vierzehn Künstlerinnen und Künstlern steht, die die Jury für ausstellungswürdig befunden hat. So zeigt die Rumänin Iona Mitrea mit „Belief in Poems“ achtzehn versiegelte Briefumschläge, über deren Inhalt sich trefflich rätseln lässt. Maria Malmberg dagegen stellt auf eine auratisch überhöhende Stele ein „Konvolut“, einen Würfel mit fünf Zentimetern Kantenlänge aus gepresstem Staub, der sich in fünfundzwanzig Jahren in einer Künstlerwerkstatt angesammelt hat. Ein ironischer Verweis auf die Zeitgebundenheit von Kunst und ihr allmähliches Verschwinden im Bewusstsein der Öffentlichkeit? Oder doch – viel erhabener – ein Hinweis auf Ernst Blochs Konzeption der Immanenz des Kunstwerks? Die Koreanerin Yeongbin Lee wiederum entwirft mit „Es regnet Schwarz“ ein schwarzweißes fiktives Bühnenbild für ein ebenso fiktives Drama mit dem Titel „Der weiße Mann“, das zu schreiben der Betrachter aufgefordert ist.

Und so geht es weiter, etwa mit Yasmin Birkandans „Gehäuse“, einer nächtlichen Langzeitaufnahme des CVJM-Gebäudes im Kieler Jägersberg, die das banale Motiv in ein unwirkliches, traum- oder auch – nicht nur Schönheit, sondern auch Erkenntnis liegt im Auge des Betrachters – albtraumhaftes Licht taucht. Ina Gajewskis weiße Quadrate aus herkömmlichen Industriefarben auf einer Wand der Stadtgalerie – ein lapidarer Kommentar zum herkömmlichen Kunstbegriff. Mit kleinen Hausmodellen aus Kupferdraht, über die eine vielfältig eingerissene Papierfahne ein Dach bildet, weist die Taiwanesin Ying-Chih Chen auf die zwangsweise Enteignung und Vertreibung ihrer Landsleute bei Großprojekten wie einer Shopping Mall hin.

Die Ausstellung lehrt dreierlei. Zumindest in Kiel und an der Muthesius Kunsthochschule leben die Ideen von Konzeptkunst und Fluxus weiter. Ob die Jury mit ihrer Auswahl der in diesem Jahr Ausgezeichneten und dem fast vollständigen Fehlen herkömmlicher Malerei – nur Michael Struck macht mit schwarzweißen Monotypien nach alten Gruppenfotos von Krankenhauspatienten eine Ausnahme – ein Statement zum gegenwärtigen Zustand der Malereiklasse an der Muthesius Kunsthochschule, an der die meisten der Beteiligten studieren oder studiert haben, abliefert, darüber konnte oder wollten die Mitarbeiter der Stadtgalerie nicht urteilen. Zum anderen wird deutlich, dass, so überzeugend die diesjährige Verleihung des Gottfried-Brockmann-Preises an Constanze Vogt ist, ein Gutteil der an der Ausstellung Beteiligten ebenfalls preiswürdig gewesen wäre.

Und ein Drittes lässt sich konstatieren: Die in der Stadtgalerie gezeigten Arbeiten – anders als die ihnen im Geiste verwandten der Fluxus- und Konzeptkunstgeneration –  werden wohl kaum auf Widerspruch treffen und keine erbitterte, aber belebende Diskussion um den Begriff und die Funktion des Kunstwerks auslösen. Das aber darf man den Beteiligten nicht vorwerfen. Der Zeitgeist ist halt nicht so und Liberalität droht oft, in Gleichgültigkeit umzuschlagen.

Stadtgalerie Kiel, Eröffnung der Ausstellung und Preisverleihung 4.12., 19 Uhr. Bis 28.2., Di, Mi Do 10 -19 Uhr, Sa/So 11 – 17 Uhr. Katalog 12 Euro.