Die „Lindenstraße“ wurde 30 – ich bekenne mich als Fan
Von Jörg Meyer
Köln/Kiel. Intellektuellen Freunden verrät man natürlich nicht, was man Sonntagsabend, 18.50 Uhr so treibt, vor dem „Tatort“, den anzusehen, hipp und daher „okay“ ist: Familienleben mit Me, Myself & I, Abendbrot mit drei Spiegeleiern à la Helga Beimer in der Rathausstraße 11, noch einen Artikel schreiben, daher am Telefon nicht erreichbar? Nein, in der Lindenstraße 3 (wie auch in der benachbarten Kastanienstraße) tobt seit 30 Jahren das Leben, und ich bekenne, ich schaue seit Anfang an dem begeistert zu.
Auch den zahllosen Revivals von Kommen und Gehen von Figuren, die in der letzten, nämlich der Jubiläumswoche, auf Einsfestival wiederholt wurden. Ungeachtet dessen, dass ich die meisten davon schon auf DVD im Schrank habe, jedenfalls bis zum 10. Jahr der „Lindenstraße“, nehme ich das alles auf. Manischer Familien-Archivar.
Wenn die eigene Familie aus Eltern mit auch urgroßelterlichem Nachwuchs besteht, die „angeheiratete“ aus aller Welt kommt, freue ich mich jeden Sonntagabend auf dieses urdeutsche Familientreffen mit meinen TV-Nachbarn. Da sind die Beimers, die jetzt auch – „sagen wir mal” – Schillers sind, und wenn Meyer sich auf Beimer halbwegs reimt, dann Schiller auch auf „Goethe“, wie Onkel Franz (längst verblichen) Helgas (längst nicht mehr) neuen „Hansemann“ einst nannte.
Fast alle jeweils gesellschaftlich aktuellen Themen hat meine „Lindenstraße“ reflektiert. Von dem ersten Kuss eines schwulen Pärchens (damals noch Skandal) bis hin zur heute aktuellen Gentrifizierung des Viertels (heute leider immer noch kein Skandal) um die Lindenstraße, die der Fama nach in München ansässig ist, real aber als Kulisse in einem Kölner Studiogelände, wo Hans W. Geißendörfer seit nunmehr 30 Jahren sein wohl auf Ewigkeit bestimmtes Sequel dreht.
Gestern also die Folge 1559, in der Schiller wie alle Dichter des Alltags – „sagen wir mal“ – der plötzliche Herztod ereilt. Oder war es statt Wort Mord? Das Kliff hängt gewaltig! Vor allem aber ist der Nikolaus live in dieser Jubiläumsfolge, in der Geißendörfer und sein Team erneut TV-Geschichte schreiben. Die „schwarzen Raben“, also jene Plätzchen, die in jeder Weihnachtsfolge aus 30 Jahren Helga Beimer regelmäßig verbrennen ließ, backen nun die Youngster der dritten Generation: Iphigenies aka Iffis Sohn Niko und Lara, Sprössin von Alex und Iris. Die beiden lieben sich so sehr jung, dass sie sich nicht trennen mögen. Gefällt mir – und dass Niko(laus) eben nicht zum Studium nach (ausgerechnet, steht aber so im Drehbuch) Kiel reist, sondern bei Lara bleibt, umso mehr.
Nah an auch meinen Gegenwarten war die Serie schon immer mal wieder, diskutierte am vermeintlich Donnerstag vor Bundestagswahlen über mögliche Ausgänge, hatte gar für jeden eine mögliche Folgenvariante in petto. Nicht nur damit schrieb man TV-Geschichte, jetzt, zum 30., setzt man noch einen drauf, lässt Erich Schiller quasi live sterben (er atmet noch, deutlich sichtbar in HD).
Dabei war Fernsehen in seinen Urgründen doch genau so: Man filmte Shows live, Übertragungswagen sandten es direkt und verwackelt in den Äther, Eurovision manchmal dabei. Dass Fernsehen das lange vor dem allzu allgegenwärtigen Medium Internet schon in den 80ern konnte, mag man kaum noch glauben angesichts all der Selfie-Live-Posts und der Tweeds.
Doch neue Medien brauchen auch neue Inhalte, um nicht an ihrer eigenen Alltäglichkeitsfülle zu verdorren. „Lindenstraße“ ist so einer, mein Leben der letzten 30 Jahre wenn nicht bestimmend, so doch begleitend. Und so fand ich es nachvollziehbar, weil selbst in sie verliebt, dass Klaus der Moldawierin Nastja „natürlich“ nicht widerstehen konnte, litt mit all den Paaren, die sich trennten und manchmal wiedervereinten, sehnte jedem und jeder, die die „Lindenstraße“ aus schauspielerischen Gründen verließen, nach wie einem Familienmitglied, verlorenem Sohn und verlorener Tochter oder Großtante, weine jetzt mit Helga über Erichs Tod …
Und bin gespannt, ob daraus nicht doch noch ein Krimi wird, Folge 1560 sehnsüchtig erwartend. 18.50 bis 19.20 Uhr am nächsten Sonntag telefonisch nicht erreichbar.
Infos &c.: www.lindenstrasse.de.
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