Georges Bizets Opernhit wird in Kiel vor allem zum musikalischen Ereignis
Von Christoph Munk
Kiel. Das Bild eines riesigen schwarz-grauen Steines taumelt auf der Projektionsfläche im Hintergrund. Mit dem abrupten Akkord zu Beginn des Vorspiels zerspringt er in zahllose schwebende, schwirrende Farbpunkte. Der stärkste Knall in der neuen Inszenierung von Georges Bizets „Carmen“ durch Matthias von Stegmann. Später geht’s im Kieler Opernhaus ruhiger zu – teilweise so bedächtig, dass die Kieler Philharmoniker zusammen mit ihrem Gastdirigenten Rani Calderon zu den aktivsten Akteuren werden.

Finden im weiten Raum nicht zueinander: Carmen (Cristina Melis) und Don José (Yoonki Baek). (Foto: Struck)
Noch bevor die eigentliche Handlung beginnt, kreuzen sich die Wege von Carmen und Don José. Dann sieht man ihre Gestalten vor dem nun rot glühenden Prospekt: ohne Nähe, unerreichbar füreinander. Bedeutungsvoll kündigt sich das Ende an: Diese Liebe wird nicht in Erfüllung gehen. Das Arrangement im Raum spricht Bände. Ihn macht Bühnenbildner Walter Schütze zum Hauptakteur der Handlung. Hier findet der Regisseur den Platz für seine streng stilisierten Ordnungsprinzipien: der Trupp der Soldaten in penibler Formation, der Kinderchor in braver Anordnung, die Begegnung der Männer mit den Arbeiterinnen sauber choreografiert, selbst die Schmuggler schön im Gänsemarsch und der Auftritt Escamillos ein bescheiden perfektionierter Showact.
Vergesst Flamenco-Ektase, vergesst alle Spanien-Klischees, Folklore, Zigeunerblut, Schmuggler-Abenteuer, Romantik, Leidenschaft, Gefühlschaos, Leben! Das hängt als Maxime über der Inszenierung Matthias von Stegmanns. Überlasst dafür der Musik ihre Dominanz! Und folglich übernimmt Rani Calderon zusammen mit dem Philharmonischen Orchester und den Chören (fabelhaft einstudiert von Lam Tran Dinh) die Führung und zaubert alles in die Räume, was Bizets Partitur hergibt: Elan und Wucht, delikat abgestimmte Stimmungen, hinreißenden Schwung, emotionale Tiefe, das Feuer und die offen leuchtenden wie verdeckt schimmernden Farben – Offenbarungen und Geheimnisse gleichermaßen.
Auf der Bühne aber herrscht Disziplin. In der Schenke von Lilla Pastia erzeugt Carmen statt mit der angekündigten Seguidilla zur Manzanilla mit ihrem Chanson eher eine gewisse ausgetrocknete Tristesse. Und später in den wilden Bergen reichen sich die Schmuggler wie eine gut organisierte Maurerkolonne die Geldkoffer weiter – präzis zum Text: „die Gefahr ist unten, die Gefahr ist oben, da braucht man starke Nerven“. In solchen Passagen vor allem der beiden mittleren Akte lässt die Regie Matthias von Stegmanns Formstärken eher vermissen. Sie zeigen sich vielmehr in den etwas statisch angelegten, aber überlegt ausbalancierten Begegnungen der Protagonisten und der Gestaltung der inneren menschlichen Dramen.
Realisieren Frasquita (Stella Morina, eingesprungen für Lesia Mackowycz) und Mercédès (Tatja Jiblaze) noch munteres Begleitspiel, stellen die Uniformierten (Zuniga: Timo Riihonen; Moralès: Andreas Winther) und die Schmuggler (Dancairo: Michael Müller; Remendado: Fred Hoffmann) noch handfeste Figuren auf die Bühne, scheint das Quartett der Protagonisten – offenbar um Rollenklischees zu entgehen – in ein starres Stilkonzept gefügt. Begünstigt davon zeigen sich allerdings die puren sängerischen Leistungen, durchweg von solidem, wenn auch nicht gerade betörendem Stimmglanz.
Mit schönen, einfachen Mitteln fraulicher Präsenz gibt Lori Guilbeau die Micaela als einen Engel vom Lande, und Tomohiro Takada gibt den Stierkämpfer Escamillo als einen sympathischen Burschen. Äußerst tapfer bewährt sich Yooki Baek in der tragischen Heldenrolle des Don José, kein harter Hund, eher ein naiver Schwärmer, dem die Liebe die Sinne verwirrt hat. Und das durch eine Frau, die ihm von Beginn als uneinnehmbar hätte erscheinen müssen. Denn Cristina Melis zeigt sich als Festung. Sie verlässt sich unter Vermeidung von ausgelassenem Tanz und glühendem Temperament ganz auf den Charme einer im Spiel mit den Männern erfahrenen Frau, lässt – so sie Tod oder Teufel in sich tragen sollte – kaum derartige Gefühle erkennen. Alles scheint hinter einer Haut aus Stolz verborgen: Carmen cool, clever und clean.
Anders gesagt: Der Bedarf an Bizets Opernhit wurde und wird im Lande sorgsam bedient: zuletzt 1988, 1998, 2008 allein in Kiel, dazu am Landestheater 2006, in Lübeck 2011, in Eutin 2013 und wieder 2016. Braucht darum Kiel diese neue Interpretation? Als musikalisches Ereignis sicherlich. Das ist für ein lebendig gestaltetes Musiktheater ein bisschen wenig.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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