Deutschsprachige Erstaufführung in Kiel: Simon Stephens mit „Blindlings“ zu Gast
Von Christoph Munk
Kiel. Wellen von Sympathie fluten das Kieler Schauspielhaus. Simon Stephens lässt sich zur Deutschsprachigen Erstaufführung seines Stückes „Blindlings“ feiern, zuckt mit der Siegerfaust, herzt die Regisseurin Ulrike Maack und alle Akteure, vor allem Jessica Ohl, die Hauptdarstellerin. Ein international renommierter Dramatiker aus England hier auf der Bühne – da darf man stolz sein. Und das Publikum teilt maßvoll die Begeisterung.
Wiederum nicht viel los in Stockport bei Manchester. Von dort stammt Simon Stephens und dorthin kehrt er mit seinen Stücken immer wieder zurück, um zu erzählen, wie es den Leuten dort geht, wie sie nach Perspektiven in ihrem Leben suchen und eigentlich am liebsten raus wollen aus den Industrieruinen. Kiels Publikum kennt diese Geschichten. Zwei davon hat Ulrike Maack bereits auf die Bühne gestellt: „Port“ (2005) und „Am Strand der weiten Welt“ (2007). Jetzt also „Blindlings“, vor zwei Jahren uraufgeführt in Manchester, am Ort des Geschehens also, und seither frei geblieben für eine deutschsprachige Erstaufführung hier, in der Hafenstadt, am Rand der deutschen Theaterwelt.
Wiederum, datiert auf das Margaret Thatcher-Jahr 1979, ein Blick auf die Krise der Heranwachsenden zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Diesmal richtet er sich vor allem auf Cathy, 17 Jahre alt, noch Schülerin, noch unterm Dach ihrer Mutter, aber selbst schon mit einer kleinen Tochter gesegnet. Nun verliebt sie sich fix in John, der sich vor ihrem Haus herumtreibt und von dem niemand genau weiß, ob er ein vorbildlicher Buchhalter wird oder doch lieber in irgendwelche Wohnungen einbricht. Der aber muss es sein. Vielleicht weil Cathy ahnt, dass er dem Baby ein guter Vater sein wird. Vielleicht weil sie lebenshungrig und harmoniesüchtig ist, mutig aber auch sehr naiv, wenn nicht gar etwas dusselig: ein Quicky im fremden Bett, eine Mondnacht am Strand von Blackpool – schon will sie John heiraten.
Fabelhaft, wie überzeugend Jessica Ohl dieses wilde Mädchen auf die Bretter stakst: fordernd und frech, illusionslos träumend, ratlos und radikal. Sie ist schnell mit der Zunge, aber opfert dabei dem lässig lapidaren Alltagsjargon eine gute Portion sprachlicher Disziplin. Man versteht sie trotzdem, weil sie mit Herz und Wut agiert und ihre maßlose Enttäuschung mit höchster Energie ausbrechen lässt, wenn sie erfährt, wie John sie mit der besten Freundin betrogen hat. Da ahnt man, dass sie ungeheuerliche Rache üben und zu einer Wiedergängerin der antiken Medea wird.

Allmählich enttäuscht: Cathy, gespielt von Jessica Ohl, im Hintergrund: Felix Zimmer als John. (Foto: Olaf Struck)
Was drumherum geschieht, driftet eher ins unterkühlte Mittelmaß. Schade, dass Felix Zimmer den John nur auf der Schmalspur zwischen Aufschneider und braver Bursche hält und wenig von der Aura ausstrahlt, die Cathy um ihn wahrnimmt: grell und schrecklich. Gewiss: Irmgard Kersting liefert stimmige Kostüme. Gewiss: Wilfried Minks gestaltet mit variablen Wänden und Podesten einen atmosphärisch kargen, aber gut bespielbaren Bühnenraum. Sicherlich: Ellen Dorn, Magdalena Neuhaus und Marko Gebbert geben den Nebenfiguren deutliches Profil. Und natürlich gelingt Ulrike Maack erneut eine sensible, bis ins Detail sorgfältig gearbeitete Inszenierung. Doch ich vermisse den unvermeidlichen Zug ins Ausweglose, die Gefährlichkeit der wahnwitzigen Liebe – sprich „amour fou“ –, das leidenschaftliche Plädoyer für die Figuren und ihre Nöte.
Stattdessen: Im zweiten Teil ein Zeitsprung in die beginnende Tony Blair-Ära und eine Phase, die von friedlicher Läuterung erfüllt ist. Fallschirmseide breitet Grün über die Szene: andere Landschaft, neue Hoffnung. Cathy steht – nach Jahren hinter Gittern – auf der Isle of Man, in Gummistiefeln und ganz bei sich. Sie erhält Besuch von Johns Sohn Harry, aber besänftigt souverän alle Aggressionen, die er mitbringt. Nun also lässt der nüchterne Beobachter Simon Stephens den Romantiker in sich frei und streut finalen Puderzucker über die Chose. Pardon: Jetzt darf man gerührt sein.
Info und weitere Termine: www.theater-kiel.de
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