Lukas Hemlebs und Luca Scarzellas Kieler „Tosca“-Version imaginiert in römische Sehenswürdigkeiten

Von Christoph Munk

Kiel. Puccinis „Tosca“ drängt im Theater nach den Originalschauplätzen ihrer Handlung. Dieser Auffassung eifern seit jeher die Opernregisseure und ihre Bühnenbildner hinterher, wie in der Aufführungsgeschichte belegt. Schon für die Uraufführung 1900 in Rom ließ Adolfo Hohenstein den Innenraum der Kirche Sant’ Andrea della Valle, einen Saal im Palazzo Farnese und die Plattform der Engelsburg auf der Bühne nachbauen. Diese Tendenz steigerte sich bis ins Jahr 1992, als das Musikdrama an den authentischen römischen Orten und zu den vorgegebenen Tageszeiten nachgespielt und live im Fernsehen übertragen wurde.

Dramatische, erzwungene Annäherung: Agnieszka Hauzer als Tosca und Georg Hakobyan als Scarpia. (Foto Olaf Struck

Dramatische, erzwungene Annäherung: Agnieszka Hauzer als Tosca und Georg Hakobyan als Baron Scarpia. (Foto: Olaf Struck)

Lukas Hemleb, Regisseur der jüngsten Kieler Neueinstudierung, bewegt sich also auf einem guten Weg der Tradition, wenn er mit Hilfe raffinierter Videoprojektionen von Luca Scarzella und ausgefeilter Lichtgestaltung von Carsten Lenauer die Spielräume der Wirklichkeit angleicht. Doch geht er einen Schritt weiter und gibt den szenischen Hintergründen eine Art präzis kalkulierter Künstlichkeit, die mehr bedeutet als pure Illusion: Räume für Magie und Imagination.

Die gleichen Effekte erzeugt im Orchestergraben Daniel Carlberg, der am Pult des Philharmonischen Orchesters und mit den von Lam Tran Dinh und Moritz Caffier trefflich einstudierten Chören seinen souveränen Kieler Einstand als Operndirigent gibt. Er leuchtet eindrucksvoll den von realen Klängen durchmischten Farbenreichtum und die bis ins Extreme ausbrechenden Kontraste von Giacomo Puccinis Partitur aus. Da blühen die Kantilenen, dehnen sich die Melodiebögen aus. Da schwingen die festlichen Gesänge, da krachen und splittern die musikalischen Zeichnungen der Grausamkeiten. Und alles steht sicher auf einem soliden, hörbar sorgfältig gearbeiteten Fundament gemeinsamen Musizierens.

Denn der Dirigent trifft auf ein homogenes und bis in die kleinen Partien gut gestimmtes Sängerensemble. Agnieszka Hauzer ist der Titelpartie in jedem Moment gewachsen. In klaren Gesangslinien führt sie die Figur von der koketten, mit Eifersucht spielenden Diva zur wehrhaften Frau, schließlich zur beseelt betenden Künstlerin und zu einer nur für kurze glückliche Momente innig Liebenden. An ihrer Seite offenbart Yooki Baek als Cavaradossi, wie wohl sich sein Tenor im italienischen Fach eingenistet hat, mit jugendlicher Beweglichkeit, Leuchtkraft und ohne Heldenschwere.

Am Gegenspieler des unglücklichen Liebespaares demonstriert Regisseur Lukas Hemleb am deutlichsten, dass er dem Spiel von Liebe, Eifersucht, Verführung, Eroberung, Verrat und Gewalt auch eine politische Dimension abgewinnt. Denn Gevorg Hakobyan – dem Kieler Publikum spätestens vom Sommertheater in der Titelrolle des „Nabucco“ bekannt – gibt mit gekonnt eingesetzter Baritonstärke dem Baron Scarpia nicht nur die Züge eines brutalen Schurken. Seine Erscheinung (Kostüme: Otto Krause) erinnert an gewesene Machthaber hinter Mauern und Eisernen Vorhängen. Er gibt sich als unauffälliger Biedermann, der seine triebhafte Neigung zu Erpressung und Gewalt hinter einer Fassade harmloser Alltäglichkeit versteckt – eine zeitgemäß wirkende Gestalt gut versteckter Despotie.

Drumherum und vor seinem eindrucksvollen Kulissenzauber arrangiert die Regie eine eher konventionelle Personenführung, aufgefrischt durch lebhafte Illustrierung der Nebenfiguren: humorvoll der Messner (Marek Wojciechowski), gehetzt der flüchtende Angelotti (Christoph Woo), grotesk verzeichnet Scarpias Gesellen (Spoletta: Michael Müller; Sciarrone: Slaw Koroliuk), schlicht der Schließer (Anton Schmalz). Und von gesanglich einfacher Schönheit: Johanna Kahlckes Hirtenknabe.

Anders gesagt: Wer nach 2006 und 2012 das Bedürfnis nach einer neuen „Tosca“-Inszenierung verspürt, wird auf musikalisch faszinierender Grundlage mit phantastischen Raumillusionen bedient.

Weitere Termine und Info: www.theater-kiel.de