Katrin Lindner gelingt am Kieler Schauspiel eine einleuchtende Interpretation von Wedekinds „Frühlings Erwachen“

Von Christoph Munk

Kiel. Vor mehr als hundert Jahren traf Frank Wedekinds Provokation ins Schwarze: Mit Ignoranz, Zensur und Verbot reagierte damals die Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die scharfe Kritik des Autors an der bürgerlichen Sexualmoral. 16 Jahre nach der Entstehung des Textes zog die Uraufführung einen Prozess wegen Obszönität nach sich, der erst 1912 beigelegt wurde. Die Zeiten ändern sich: Heute zählt die Kindertragödie „Frühlings Erwachen“ zur Pflichtlektüre an unseren Gymnasien und zum selbstverständlichen Repertoire auf unseren Bühnen.

Jugend auf dem Weg ins Leben: Moritz (Martin Borkert, links). Frau Gabor (Agnes Richter) und Melchior (Simon Heinle). Foto Olaf Struck

Jugend auf dem Weg ins Leben: Moritz (Martin Borkert, links). Frau Gabor (Agnes Richter) und Melchior (Simon Heinle) (Foto Olaf Struck)

Habe man bisher, so notierte Wedekind 1911, das Stück als reine Pornografie angesehen, anerkenne man es jetzt als „trockene Schulmeisterei“. Aber „Humor will noch immer niemand darin sehen“. Jetzt, im Kieler Schauspielhaus, aber wird viel gelacht, zumindest zum Beginn der Premiere von Katrin Lindners Neuinszenierung. Gelacht worüber? Zunächst über die unbeholfene Naivität, mit der die jugendlichen Protagonisten sich dem Thema Sexualität nähern. Das klingt mehr nach Sympathie als nach Spott, nach Verständnis für zeitlich ferne altmodische Zustände mangelnder Aufklärung.

Die Regisseurin führt eben ihr Publikum sehr behutsam in eine damals vorstellbare Stimmung ein: Irgendwo übt ein Mensch Klavier und begleitet eine Sängerin (Nadine Deventer) bei ihren unfertigen Melodien (Musik: Ingmar Kurenbach). Alles bleibt ungefähr, nichts wird gewiss. Auch die Räume von Tobias Schunk scheinen nicht fertig: Eine massive, hölzerne Box füllt die Bühne. Zuerst steht darin noch eine dunkle Stube, später wird der Bau nach hinten ins Schwarze aufgerissen. Hier ist man im Nirgendwo gelandet, ungeborgen, gleichzeitig überall: Wohnzimmer, Straße, Wald, Gymnasium, Heuboden, Korrektionsanstalt, Friedhof.

Wo bin ich? Wer bin ich? Das ahnen Wedekinds Jugendliche allenfalls. Schwierig genug für junge Schauspieler, den Figuren das Alter von halben Kindern zu geben. Die Kostüme von Julia Kneusels vermitteln vage Orientierung: die Hosen zu kurz, die Kleidchen recht brav. Darüberhinaus nur Andeutungen: Tasten nach Konturen, Suchen nach Spuren von Individualität. Nichts ist fertig. Alle breiten nur Entwürfe aus. Oder liefern Vorschläge, die Jugendlichen nicht von Außen zu charakterisieren, sondern mit ihren Verwirrungen von Innen her zu verstehen. So macht Magdalena Neuhaus sehr zart begreifbar, warum Wendla völlig unaufgeklärt, also unwissend und unschuldig schwanger wird. Und Melchior, so wie ihn Simon Heinle neugierig suchend, aber eben nicht triebhaft handelnd vorführt, wird des Lebens Fülle erst viel später erfassen. Daneben stellt Martin Borkert seinen Moritz stabil, aber staunend mit Verzweiflung ringend in die Welt. Jennifer Böhm (Martha), Rudi Hindenburg (Hänschen) und Marius Borghoff (Ernst) tragen farbige Figurenskizzen bei, während Isabel Baumert mit deutlichen Strichen zeigt, wie weit Ilse sich schon aus der Kindheit entfernt hat.

Bei den Erwachsenen scheint alles klar, insbesondere unter den durch Überzeugungen gefestigten Männern. Denn bei Ellen Dorns Frau Bergmann, Wendlas Mutter, mischt sich auf fatale Weise übertriebene Fürsorge mit hilfloser Schamhaftigkeit. Hingegen lässt Agnes Richter Melchiors Mutter, Frau Gabor, mit faszinierenden Anspielungen in die Sphäre sinnlicher Irrungen und Wirrungen zurückfallen – ganz „mütterliche Freundin“ eben.

Die Herren in diesem Spiel kommen scharf markiert daher: Zacharias Preen (Rektor Sonnenstich), Christian Kämpfer (Herr Gabor), Marko Gebbert (Herr Stiefel) und Siegfried Jacobs (Doktor von Brausepulver) liefern unzugängliche, krass reduzierte Typen, verkommen zu stupiden Statements unangreifbarer Deutungsmacht.

Je mehr die aggressive Bestimmtheit der Männer im Verlauf der Handlung an Dominanz gewinnt, desto mehr gerät die Aufführung unter den Einfluss gnadenloser Härte. In eleganten szenischen Übergängen schleift und schwingt sich das Spiel durch die Atmosphäre der Unsicherheit und des träumerischen, sehnsüchtigen Suchens, Ahnen und Irrens – Charakteristikum von Kindheit und früher Jugend – wird der Verlauf später durch ein Stakkato der gestanzten Gewissheiten geprägt. Bis der vermummte Herr (geheimnisvoll: Almuth Schmidt) in ein gelassenes Finale führt. Da zeigen sich die Qualitäten von Katrin Lindners Regiearbeit, denn ihr gelingt es, ihre Interpretation von Wedekinds Text durch den Spielrhythmus zu verstärken. So wird im Kontrast der Stimmungen ein grundsätzlicher, die Zeiten überdauernde Konflikt der „Kindertragödie“ spürbar: Dort, wo unnachgiebig und ohne den Willen zur Aufklärung die bürgerliche Moral herrscht – und möge sie noch so überkommen sein –, geht es gnadenlos zu. Da gibt es kein Erwachen im Frühling. Nur die Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit.

Anders gesagt: Katrin Lindner überzeugt mit einer sensiblen, sinnlichen und theatralisch reduzierten, aber umso konsequenteren Inszenierung. Viel Beifall.

Info und Termine: www.theater-kiel.de