Kieler Ballett: Yaroslav Ivanenko und Darrel Toulon choreografieren gegensätzliche Geschichten zur Nacht

Von Christoph Munk

Kiel. Dunkelheit bricht herein. Da gehen die Sinne ihre eigenen Wege. Da wandelt sich die Wahrnehmung. Da folgt das Bewusstsein ganz neuen Gesetzen. Das Thema Nacht kennt viele Varianten, erweitert Zeit und Raum und bringt zwei gegensätzliche Choreografen an einem Abend zusammen: Kiels Ballettdirektor Yaroslav Ivanenko erzählt mit „When She Went Away“ von verhangenen Schlafgeschichten; sein Gast, der ehemalige Grazer Ballettchef Darrel Toulon, fordert mit „Blame it on The Moondog“ zu grellen Eskapaden heraus. Und das Kieler Tanztheater-Publikum zeigt sich von beiden Spielarten entzückt.

Formation der Traumgestalten: Szene aus „When She Went Away". (Foto Struck)

Formation der Traumgestalten: Szene aus Ivanenkos Choreografie „When She Went Away“ (Foto: Struck)

Keine Angst vor Träumen: Das Plüschhäschen im Arm macht Mut, Schuberts Wiegenlied lullt ein. Und so schreitet das Mädchen (Marina Kadyrkulova) voller Neugierde durch die kleine Tür im Eisernen Vorhang. Ein Schritt genügt zum Eintritt ins Reich des Schlafes. Ein Ort der Begegnungen. Schattenfiguren tauchen auf, gewinnen Eigenleben, nähern sich, entfernen sich, treiben ihr Spiel, ehe sie wieder verschwinden. Kaum scheint etwas gewiss, zerrint es wieder im Nichts. Wie gewonnen, so zerronnen. So entstehen Schlafgedichte und vergehen wieder, kaum zu begreifen und darum so ahnungsvoll.

Yaroslav Ivanenkos Choreografie nutzt gängige Muster: Kommen und Gehen, Kreisen und Wirbeln, alles eben dynamische Gruppenbewegungen, Konfrontationen und Vereinigungen, Momente der Sehnsucht und doch wieder Ernüchterung. Und in ihrem ewigen, weichen Fluss lassen sie eine unendliche Harmonie aufscheinen. Dort scheint für Augenblicke eine Gemeinschaft tragfähig und löst sich doch wieder auf. Das sind Formen, an denen begierig und individuell die Fantasie leckt und die geschmeidig einem kongenialen Soundtrack folgen, eben Bilder zu Tönen finden: Kimmo Pohjonens nur noch von fern der finnischen Volksmusik abgelauschter Klang, der träumend schwebt und in ewig wiederkehrenden Motive der Streicher das Ohr umkreist, quälend in ihrer Endlosigkeit und doch immer wieder kostbar und süss. Wie Geschwister aus der gleichen Klangfamilie führen Max Richters minimalistische Kompositionen den musikalischen Duktus fort, fremd und betörend zugleich, bedrohlich und doch tröstlich. Denn Ivanenko führt seine Traumgeschichte in die Wirklichkeit zurück. Da tritt das Mädchen wieder zurück durch des Schlafes Tür: noch mehr Kind jetzt, den Spukgestalten vertraut.

Der Boss beherrscht die Szene in Toulons Choreografie: „Blame it ohh the Moondog". (Foto Struck)

Der Boss beherrscht die Szene in Toulons Choreografie: „Blame it ohh the Moondog“ (Foto: Struck)

Andere Wege durch die Nacht, Verführung an einen anderen Ort. Dorthin, wo buntes Licht die Dunkelheit vertreibt und der späte Abend bis in den frühen Morgen reicht. In Darrel Toulons „Blame it on the Moondog“ pocht und pulsiert, faucht und flackert der kraftvoll impulsive Rock der Grazer Band „The Base“. Deren Songs hat Toulon zu erregenden Episoden konzentriert. Auch sie ereignen sich in dunklen Stunden, aber sie sind gekennzeichnet von energiegeladener Wachheit. Dort beobachtet von einer Treppe, die in die Kellertiefe seines Clubs führt, genüsslich ein Boss (Edward James Gottschalk), wie sich die Partygemeinde in ihrer Tanzwut suhlt. Dort mag es Gier und Geilheit geben, aber dort greift mit knapper, eleganter Gewalt eben der Boss ein. Anmache und Imponiergehabe – geschenkt. Jeder Ritus wird vorgeführt und ist respektiert, aber über Erfolg oder Erniedrigung entscheidet der Mächtige in dieser untergründigen Welt.

Hierher kommt, wer den Schlaf flieht. Hier will keiner still träumen. Hier sucht jeder den Lärm, die krachende Ablenkung aus einem Alltag, mag der noch so gewöhnlich sein. Hier herrscht nächtlich nervöser Zauber. Was die Kieler Compagnie unter Darrel Toulons Anleitung hier entfacht, ist pure Energie, wilde Entschlossenheit und Hingabe an die animierenden Rhythmen der wechselvollen Songs und ihrer stimmungsvollen Geschichten. Mögen sie von Trennung und Wiederfinden erzählen, oder von Zuneigung und Kampf. Was auch geschieht, Trauer oder Lust, Angriff oder Verletzung, alles wird Tanz. Der Refrain im Titelsong „Blame it on the Moondog“ gibt es unwiderstehlich vor: „Bye bye baby, have a good night now.“ Sowas schwappt über die Rampe direkt ins beglückte Publikum.

Info und Termine: www.theater-kiel.de