Zweimal „Die Zehn Gebote“: Respektvoll gefeierte Uraufführungen im Kieler Schauspiel
Von Christoph Munk
Kiel. Der Krieg scheint der geeignete dramatische Prüfstein für die Gültigkeit der Zehn Gebote in unserer Wirklichkeit. Denn sonst wäre es purer Zufall, dass sowohl Feridun Zaimoglu mit Ko-Autor Günter Senkel als auch der israelische Schriftsteller Shlomo Moskovitz in ihren Auftragsarbeiten für das Kieler Schauspiel als Ort und Zeit Phasen existenzieller militärischer Auseinandersetzungen wählten. „Die Zehn Gebote“, unter respektvollem Beifall uraufgeführt, handelt also in beiden Teilen von Menschen – Tätern wie Opfern – und ihrem Verhalten während der Abwesenheit des Friedens.

Wer ist weiser? Adam (Marko Gebiert) oder die Eselin (Jessica Ohl). Im Hintergrund: Werner Klockow. (Foto: Olaf Struck)
Die Aufführung beginnt mit Zaimoglu/Senkel. Doch erst nach der Pause, wenn Moskovitz beginnt, ereignet sich der schönste, hellste und heiterste und damit klarste Moment des Abends: Adam wähnt sich nach der Schlacht am Libanon allein auf der Welt – ein israelischer Offizier, stolz wie der erste Mann. Unter brüllend wohligem Grunzen entledigt er sich seiner Kleidung und lässt laut stöhnend sein Wasser: „endlich, endlich, alleine, in Ruhe pinkeln können …“ Und Marko Gebbert erledigt sein Geschäft – wie später die ganze Rolle – mit der ganzen, ihm eigenen körperlichen Intensität und genüsslichen Inbrunst.
Doch er bleibt nicht ungestört. Eine Eselin verirrt sich zu ihm, bepackt mit einem Teppich und einem Bündel Möhren. Bier hat sie auch dabei und unendlich viel zu schnattern, naiv und gewitzt. Wie das eben Jessica Ohl – soweit man ihrem schnellen Mundwerk unter der Maske folgen kann – fabelhaft hinkriegt. Großmaul gegen Plapperschnute – da geht viel Dialog den Bach hinunter. Doch nach einer Stille fällt der kapitale Satz: „Deine innere Stimme sagt dir, ganz eindeutig, dass du hier nichts zu suchen hast“, befindet die Eselin. „Und trotzdem bist Du hier.“ Da haben wir den ganzen Schlamassel, den Konflikt zwischen Befehlsgehorsam und Bauchgefühl. Mehr braucht es nicht.
Doch der hohe Offizier steckt im Gefängnis seiner Biografie, die nun aufgeblättert wird. Weil er dem Befehl, die Stadt zu erobern, nicht folgen will, drangsaliert ihn der militärisch-politische Apparat: speziell der Verteidigungsminister (Imanuel Humm) und der Generalstabschef (Marius Borghoff). Seine Tochter Nori (ebenfalls Jessica Ohl) will nicht in die Armee und vertritt die pazifistische Gegenposition. Seine Ehefrau Ruth (Ellen Dorn) hat er in einem zweifelhaften Manöver gegen Freundin Naomi (Jennifer Böhm) ausgetauscht. Seine Eltern (Claudia Macht, Werner Klockow) tragen an den düsteren Lasten einer Vergangenheit in deutschen Lagern.
Da ist viel Text abzuarbeiten: ein wechselvoller Diskurs zu Israels Geschichte und politischer Gegenwart, aufgereiht am Kanon der zehn biblischen Gebote. Doch mit glücklicher Hand schmückt Regisseurin Dedi Baron Shlomo Moskovitz’ Pflichtprogramm mit unterhaltsamen Einfällen zur reizvollen Kür aus. Hübsch anzuschauen beispielsweise, wie die Eselin aus ihren Teppichflicken auf der Spielfläche nach und nach die Landkarte Afrikas, Europas und Vorderasiens mit Israel inmitten zusammenpuzzelt. Amüsant zu beobachten, wie bei der großen Party zur Ernennung Adams zu Israels jüngstem General gefällige Reden zum automatisierten Formationstanz verhackstückt werden. Bis Adam den fälligen Rausschmiss wagt: eine Befreiung, ein energisch kurzer Schluss nach bedeutungsgeladenem langem Anlauf.

Finale Gegenspieler: Hauptmann (Zacharias Prehn, rechts), Priester Georgi (Oliver E. Schönfeld): im Hintergrund: Magdalena Neuhaus. (Foto: Olaf Struck)
Finsterer und moralisch wesentlich strenger geht es bei Feridun Zaimoglu und Günter Senkel zu. An allen Fronten während der furchtbaren Blockade der Stadt Leningrad durch Hitlers Wehrmacht (1941-1944) liegt die Moral am Boden. Wer fragt nach Gott und seinen zehn Geboten? Gewiss nicht in seinem Führerwahn der Hauptmann (schnarrend furchterregend: Zacharias Prehn), denn der schießt die Köchin willkürlich über den Haufen und schickt seinen Bruder in den sicheren Soldatentod, nachdem er dessen Ehefrau in der Heimat geschwängert hat. Und auch dort geraten Sitte und Anstand allmählich aus den Fugen. Ebenso geht es in den Elendshöhlen der Belagerten zu, wo der Hunger die Gebote aus der Bibel allmählich aus den Herzen und Hirnen vertreibt und wo, wie in den Fabeln nach Märchen von Afanasjew, nur noch das Recht des Stärkeren und Schlaueren gilt.
Alles folgt einer schlimmen, grausamen Gesetzlosigkeit. Und Regisseurin Annette Pullen fasst den Ablauf in einen hoch stilisierten Rahmen (Bühne: Lars Peter) und in ein straffes Arrangement, lässt das Spiel immer strenger werden und führt ein tapfer und engagiert durch die Rollen wechselndes Ensemble: Isabel Baumert, Yvonne Ruprecht, Magdalena Neuhaus, Almuth Schmidt, Christian Kämpfer, Felix Zimmer, Rudi Hindenburg, Oliver E. Schönfeld. Zu sehen ist ein dunkles Gemälde, kaum eine dramatische Entwicklung, keine wirklichen Konflikte. Und das Ende: ein Duell Mann gegen Mann. Auch das eine Übertretung des göttlichen Gebots.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
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