Lucina Childs Kieler Inszenierung von Glucks „Orphée et Eurydice“ macht Schluss mit einem Mythos der Antike

Von Christoph Munk

Kiel. Orpheus betört mit der Schönheit seines Gesanges die furchterregenden Wächter des Totenreiches und darf von dort seine geliebte Eurydike ins Leben zurückholen. Und als er das Gebot der Götter missachtet, so dass die Geliebte stirbt, wird sie abermals, diesmal durch die Macht der Liebe, gerettet. All das erweist sich als ein schnöder Traum. Denn die amerikanische Regisseurin Lucinda Childs räumt den Glauben an den Mythos aus der griechischen Antike beiseite. Ihre Inszenierung von Christoph Willibald Glucks „Orphée et Eurydice“ in französischer Fassung erhielt dafür im Kieler Opernhaus engagierten Beifall.

Gemeinsamer Trauergesang: Orphée (Tatia Jibladze) und der Chor. (Fotos Olaf Struck)

Gemeinsamer Trauergesang: Orphée (Tatia Jibladze) und der Chor der Kieler Oper. (Fotos: Olaf Struck)

Alles ist bei Lucinda Childs und ihrem Ausstatter Paris Mexis modern gemeint: „zeitgenössisches Setting“ nennen sie das. Aus herrschaftlichen, neoklassizistischen Räumen wird ein Sterbebett hinausgefahren. Zurück bleiben eine Gesellschaft in schwarzer Trauerkleidung und Orphée. Tatia Jiblaze, eine Sängerin als junger Herr, gibt die Hosenrolle mit eingeübt männlicher Attitüde und mit der nicht gerade mächtigen, aber klar geführten Stimmkraft ihres Mezzo. Getragen darf sie sich fühlen vom behutsamen, äußerst delikaten Spiel des Philharmonischen Orchesters unter der Leitung von Rubén Dubrovsky und dem dynamisch fein abgestimmten Chor (Einstudierung: Lam Tran Dinh).

Auch die Figur des Amor ist heutig und lebensnah gedacht: Begabt mit einem lockend weichem, hell klingendem Sopran und gekleidet wie ein Mitglied des ärztlichen Personals bietet Hye Jung Lee dem Trauernden Trost. Allerdings nicht mit dem Versprechen medizinischer Wunderheilung, sondern erwartungsgemäß durch die Botschaft von der Götter Gnade. Orphée möge seine Eurydice aus der Unterwelt befreien, allerdings unter der strikten Bedingung, sie dabei keines Blickes zu würdigen. Orphée tut’s und begibt sich dazu in den eigenen Keller, wo die Trauergesellschaft, flankiert von vier hurtigen Tänzern, inzwischen eine Darstellung maskierter Schreckensgestalten gibt, statuarisch unnachgiebig zunächst, allmählich jedoch vom Wohlklang in Orphées Stimme und der – durch die Decke tröpfelnden – Bühnenmusik besänftigt.

Der „Reigen seliger Geister" als verspielter Tanz.

Der „Reigen seliger Geister“ als verspielter Tanz.

Alles bei Lucinda Childs und Paris Mexis soll real erfassbar, plausibel und lebensecht erscheinen – so sphärisch entrückt und doch wundersam präzis Rubén Dubrovsky Glucks Musik auch anstimmen lässt. Orientiert an einer realistischen Konzeption gehen Childs und Mexis bewusst sparsam mit phantastischen Einfällen um. Die renommierte Choreografin spart selbst an tänzerischer Originalität, und so erscheint es gewissermaßen logisch, dass der „Reigen seliger Geister“ – bis in die schwebenden Flötensoli hinein ausführlich und köstlich musiziert – eine Parodie auf die seligen Zeiten der Fernsehballette vermuten lässt. Und dass Heike Wittlieb ausstaffiert ist wie eine blonde College-Schönheit und doch die Anforderungen der Eurydice-Partie mit aller Würde souverän und anmutig meistert.

Ihre Begegnung mit Orphée wirkt wie ein Griff in die vertraute Beziehungskiste. Am Ende gibt der Mann nach. Man glaubt das zu kennen. Sind also dem Zuschauer die Geschichte und ihre Figuren näher gebracht, indem sie aus der Gegenwart geschnitten scheinen? Vordergründig gewiss. Doch in ihrem geistigen Hintergrund erhalten sich seit jeher alle Kulturen der Welt ihren Mythos. Er soll die Gewissheit des Todes erträglich gestalten und den Glauben an die Macht der Liebe erhalten. Und im Falle von Orpheus sogar an die Macht der Kunst. Gluck und sein Librettist Rainiere de Calzabigi bedienten sich im 18. Jahrhundert zur musiktheatralischen Verkündigung dieser Botschaft der griechischen Antike und fanden zusätzlich Gefallen am listigen Kunstgriff, auf der Bühne werde ein Gott aus dem Theaterhimmel Erlösung bringen. Nichts davon bei Lucinda Childs und Paris Mexis. Stattdessen schieben sie das Sterbebett wieder ins Bild; Dubrovsky dirigiert dazu ein paar Takte Trauermusik. Aus der Traum. Oper als Ort der Ernüchterung.

Anders gesagt: Wenn’s denn so sein soll, dass die Gestalten aus den antiken Mythen verständlicher und erkennbarer werden, wenn sie im gegenwärtigen Alltag untergebracht scheinen und dort handeln und fühlen und selbst träumen wie Hans und Franz, erscheint das gemessen an den Möglichkeiten der Darstellenden Kunst kurz gedacht. Denn auch die Geschichten der Gegenwart kommen kaum ohne ihre Mythen und den Helden darin aus: Superman und Harry Potter beispielsweise bewirken im Kino Wunder, und im Fernsehen sind selbst unsere Tatort-Kommissare erfolgreicher als es jede Aufklärungsquote hergibt. Wozu das Theater, wenn es utopische Gegenwelten leugnet?

Info und Termine: www.theater-kiel.de