Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 1:
Von Glückstadt nach Fedderwardersiel und Leer

Von Hannes Hansen

Leer. Wer wie ich von Kiel nach Holland, so wollen wir dann der Einfachheit halber die Niederlande nennen, obwohl wir natürlich wissen, dass der Name korrekter Weise nur auf zwei Provinzen des Königreichs anwendbar ist, wer als Kieler also nach Holland fahren will, der muss erst einmal eine Grenze überwinden, die Elbe. Ein schwieriges Unterfangen für einen eingefleischten Schleswig-Holsteiner, für den Angehörigen eines Volksstamms also, in dessen Wahrnehmung südlich der Elbe der Balkan anfängt. Aber Rotraud, meine Reisebegleiterin für ein paar Tage, macht mir Mut. „Wirst sehen“, sagt sie, „das ist gar nicht so schlimm.“ Dabei würde die weltläufige, seit Jahren in Berlin ansässige Hanseatentochter nicht einmal im Traum darauf kommen, bei Besuchen in ihrer Heimatstadt Hamburg die Elbe in südlicher Richtung zu überqueren, um den schon ans Niedersächsische grenzenden Ortsteil Harburg zu besuchen. Sie streift zwar ganz gerne mit ihrer Kamera durch die Stadt, um die Bausünden kapitalkräftiger, an der Stadtgestalt aber nicht weiter interessierter Investoren fotografisch festzuhalten und in Zeitungsartikeln und Architekturtraktaten zu geißeln. Aber Harburg?

„Haaarburg?“, pflegt sie auf solches Ansinnen im besten, von ihrer Familie gepflegten Hamburgisch zu antworten, „Haaarburg? Daaa fährt der Orientexpress hin. Aber was soll ich denn daaa?“ Wenn man sie auf die offensichtliche Unverträglichkeit ihrer links alternativ unterfütterten Gesinnung und des Hochmuts gegenüber den armen Menschen südlich der Elbe anspricht, rümpft sie die Nase, wirft den Kopf zurück, dass die Haare fliegen und sagt: „Das vers-tehst du nicht.“ Wenn sie verärgert ist, s-tolpert sie gern über den s-pitzen S-tein, eine Angewohnheit, die sie von ihrer Mutter übernommen hat und die als signalhafte Warnung nur noch von dem Satz „Dascha gediegen“ übertroffen wird.

„Dascha“ ist Hamburger Originalton und heißt „Das ist ja“, welche linguistische Kollokation es im hanseatischen Idiom aber nicht gibt. Und das schöne Wort „gediegen“ meint eben nicht etwas Solides und Vertrauenswürdiges sondern in der Hansestadt und ihren nördlich angrenzenden Gefilden das genaue Gegenteil und darf als Synonym für „unglaublich“, auch für „schockierend“ dienen. Den Satz stößt die alte, überaus konservative Dame mit der Energie, aber nicht eben dem Feingefühl eines Solotrompeters der Hamburger Staatsoper aus, sobald auch nur die leiseste Kritik an den Umtrieben ihrer Tochter von unberufener Seite – und das sind alle, die nicht zur Familie gehören – laut wird.

Pitoresk: Das Kleinod Glückstadt (Fotos: Hannes Hansen)

Pitoresk: Das Kleinod Glückstadt. (Fotos: Hannes Hansen)

Ich habe Rotraud am Bahnhof von Glückstadt abgeholt, und jetzt haben wir Hunger. Den stillen wir bei einer ausgiebigen Mahlzeit im Restaurant „Kandelaber“ am Marktplatz. Auch wenn ich die Kreationen seines Besitzers, des letzten Produzenten der auf traditionelle Weise hergestellten „Glückstädter Matjes“ bereits in einem früheren Buch über den grünen Klee gelobt habe, kann ich nun doch abermals und ohne Hintergedanken an pekuniäre Vorteile nicht umhin, die nach Hausfrauenart mit „Majonäse“, Sahne, Äpfeln und Zwiebeln oder mit einer Soße aus Senf, Honig und Dill, die goldgelb geräucherten oder mit Kräutern eingelegten, mit Bohnen im Speckmantel, mit Pell- oder Bratkartoffeln servierten Matjes zu preisen. Rotraud nickt zu meinen panegyrischen Ergüssen. Sprechen kann sie nicht, denn sie ist zu sehr mit dem Essen beschäftigt.

Auf ins niedersächsische Friesenland: Elbfähre Glückstadt-Wischhafen (Fotos: Hannes Hansen)

Auf ins niedersächsische Friesenland: Elbfähre Glückstadt-Wischhafen.

Derart gestärkt, setzen wir unsere Reise in die Fremde fort. Die Fähre ins Niedersächsische folgt einer gewundenen Linie, um Untiefen und Elbinseln herum. Sie umkurvt Tanker und Containerschiffe, Segler und Motoryachten und spuckt uns in Wischhafen aus, einem nicht weiter bedeutsamen Ort „achter’n Diek“, wie Freund Otto, der uns am Anleger erwartet, im Plattdeutsch seiner bäuerischen Vorfahren von der Schleswiger Geest sagt. Der Dozent für Tierhaltung an der agrarwissenschaftlichen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität hat vor einigen Jahren durch mich Rotraud kennen und lieben gelernt. Jetzt will er sich ein Bild von den Landschaftsveränderungen durch Mais- und Raps-Anbau machen, und Rotraud begleitet ihn mit dem Fotoapparat.

Backsteinseligkeit: Das „Rote Rathaus“ nicht in Berlin, sondern Glückstadt.

Backsteinseligkeit: Das „Rote Rathaus“ nicht in Berlin, sondern Glückstadt.

Die beiden folgen meinem VW-Bus in Ottos PKW durch das Kehdinger Land. Es geht vorbei an und manchmal durch Ortschaften wie Bremervörde oder Bederkesa. Wir sind hier am Arsch der Welt. Der Arsch der Welt ist grün. Grasgrün und maisgrün. Gewaltige, das topfebene Land zerreißende Überlandleitungen haben ihn blutig gekratzt. Auf den Weiden grasen schwarzbunte Kühe, gelegentlich auch Schafe oder Pferde. Doch immer mehr Grünland ist im Laufe der letzten Jahre umgebrochen worden und ist dem Maisanbau gewichen. Als wir im letzten Sommer auf einer anderen Reise uns hierher verirrt hatten, standen die blassgrünen Pflanzen wie ein Wall zu beiden Seiten der Straße und versperrten die Sicht auf die Landschaft.

Ihr Anbau ist nicht nur ein ästhetisches Problem. „Der meiste Mais hier“, sagt Otto, „wird zu Biogas verarbeitet. Ein nachwachsender Rohstoff, der angeblich der Klimabilanz auf die Beine hilft, weil er beim Wachsen genauso viel CO2 bindet wie er bei der Verbrennung freisetzt.“ Wieso „angeblich“, wollen Rotraud und ich wissen. „Bei der Berechnung der Klimabilanz“, erläutert Otto professoral, „wird gar zu gern vergessen, dass beim Umbrechen von Grünflächen auch schädliche Gase freigesetzt werden. Von der Masse an notwendigen Düngemitteln und Insektiziden einmal ganz zu schweigen. Was die Wirkung auf die Umwelt angeht, dürfte der Maisanbau für die Produktion von Biogas ebenso kontraproduktiv wie der Rapsanbau für Biodiesel sein.“

Rotraud ist empört. „Da müsste die Politik doch einschreiten“, sagt sie. Otto lacht. „Die fördert den Unsinn ja. Um die Bauern ruhig zu stellen, die damit endlich einmal wieder Geld verdienen können. Die können nichts dafür.“

Post-post-post-wilhelminisch: Das Rathaus in Nordenham

Backsteinseligkeit 2.0, daher kaum „binnen“, eher schon „buten“: Das Rathaus in Nordenham.

Nach einer Nacht im Campingbus – respektive im Falle Rotrauds und Ottos im Hotel – geht es weiter nach Butjadingen. Das liegt eingeklemmt zwischen der trichterförmigen Wesermündung und der verbeulten Kreisform des Jadebusens, nach dem der Landstrich seinen plattdeutschen Namen – „buten“, also außerhalb der Jade – trägt. Sein Hauptort ist Nordenham, eine saubere, aufgeräumte, rechteckige Stadt. Nicht nur, dass sich so gut wie alle Straßen seit ihrer Gründung vor gut 100 Jahren im Neunzig-Grad-Winkel kreuzen, was in Anbetracht der topfebenen Landschaft, in die „Willem Zwo“ die Stadt hat pflanzen lassen, zwar nicht weiter verwunderlich ist, aber nicht eben von einem Überschuss an städtebaulicher und architektonischer Phantasie ihrer Planer zeugt. Nicht nur also ist Nordenham im Ganzen dem rechten Winkel verpflichtet, auch die Detailformen wie die aus aufrecht gemauerten Backsteinen bestehenden Einfriedungen der Bäume in der Fußgängerzone folgen dem Ideal des preußischen „Stramm jestanden“.

Wahre Orgien an unpreußischer Heimeligkeit dagegen feiert der Backstein in den Bauten der neuesten Neuen Niedlichkeit rund um den dreifarbig in verschiedenen Steinmustern hergerichteten Marktplatz und die angrenzenden Straßen. Überall Giebelchen und Erkerchen, Pfeilerchen, Gäublein und Wandstreiflein, alles brav winklig, vorwiegend wiederum recht-…

Kunst gibt es selbstredend auch zu bewundern, etwa an einer Ecke des Marktplatzes in Form eines achtmündigen Brunnens, den irgendwie rüsselig verquollene Blubberformen mit Wasser vollspeien. Außerordentlich bunt in knalligen Bonbonfarben geht es an dem Gebäude einer Nachhilfequetsche namens „Lerntreff“ zu, den eine ganze Reihe höchst bunter und gar schauerlich die Zähne bleckender Keramikmasken solcher Völkerschaften ziert, die man einst als „Wilde“ bezeichnete. Was wollen sie dem lernunwilligen Jugendlichen sagen, dem seine Eltern die Freizeit vermiesen? „Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“? Ach nein, Dante schaffte es wohl nicht nach Nordenham. Warum übrigens dessen Kaufmannschaft im Jahre 2008 der Stadt zur Erinnerung an ihre Gründung vor einhundert Jahren ein Denkmal in Gestalt eines Bullen gestiftet hat, muss deren Geheimnis bleiben.

Als ich dann noch auf einer Stelltafel vor einem Reisebüro den Satz „Ihr Urlaub ist unsere Leidenschaft“ entdecke, beschließen wir, der Stadt Nordenham den Rücken zu kehren. Wir wollen kein leidenschaftliches Frühstück haben. Kaffee und belegte Brötchen bekomme ich auch woanders.

Auf der Fahrt immer am Deich entlang durch Butjadingen bessert sich unsre Stimmung schnell. Die Nacht über hat es geregnet, aber jetzt putzt ein kräftiger Südwestwind den Himmel blank und treibt weiße Wolkenungetüme hinaus auf den Jadebusen. Die tief eingeschnittene Meeresbucht hat, werden wir im Heimatmuseum in Fedderwardersiel lernen, vor über sieben Jahrhundert eine Sturmflut aus dem flachen Land gerissen. Bis zu einem Meter unter dem Meerespiegel liegt der Ort, und deshalb schützen ihn Deiche, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verlegt, weiter hinaus ins Wasser geschoben, ausgebessert und erhöht worden sind. Auch hier ist die Geschichte der jungen Landschaft – kaum 1000 Jahre ist sie in ihrer jetzigen Form alt – an den buckligen Beeten der Wiesen und Weiden und den sie trennenden ehemaligen Gräben abzulesen. Weit ziehen sie sich hinein ins Land, senkrecht weg von der Straße entlang dem Deichfuß, an der die breitärschig und vollhüftig sich wohlig räkelnden Gehöfte wie auf einer Kette aufgereiht liegen. Viele von ihnen müssen jetzt Dienst tun als Feriendomizile oder Wohnsitze von Städtern, die die in ihrer funktionalen Schlichtheit schönen Fassaden mit allerlei Krimskrams wie Biedermeierlaternen aus dem Baumarkt, Wagenrädern oder landwirtschaftlichen Geräten von Anno dunnemals verunzieren.

Noch mehr Gemälde: Fischerkutter im Hafen von Fedderwardersiel.

Noch mehr Gemälde: Fischerkutter im Hafen von Fedderwardersiel.

Weil aber die Sonne vom Himmel strahlt, als werde sie dafür bezahlt, weil die Wiesen und Weiden, auf denen Rinder sich der wiederkäuenden Frühstücksruhe hingeben, in vielfältigem hellen Grün glänzen und dunklere Baumgruppen wie von Riesen nach einem ästhetisch ausgewogenen Landschaftsplan hingestreut das Ebene und Horizontale dieser ganz und gar unaufgeregten Landschaft akzentuieren, weil also der liebe Gott – oder wer auch immer – uns einen Festtag bereitet hat, pfeifen wir auf die allfälligen architektonischen Unschönheiten und „autobummeln“, so es denn so etwas gibt, vergnügt nach Fedderwardersiel. Im kleinen, am zum Wattenmeer offenen Hafen ist das Sieltor geöffnet. Gurgelnd schießt das Wasser des Hinterlandes ins Hafenbecken, wo es sich schnell beruhigt und zum Priel wird, der träge hinaus ins Watt mäandert. Ein Krabbenkutter und zwei Segelboote liegen am Kai. Sie haben genügend Wasser unterm Kiel, um schwimmen zu können. Weiter draußen ist Ebbe, und das Wasser scheint verschwunden. Ein Motorboot hat sich trockenfallen lassen und liegt hoch und schief auf dem Schlick. Der glänzt in der Sonne wie flüssiges Silber.

Während Rotraud und Otto den Hafen umrunden, setze ich mich mit einem Brötchen in der einen und einem Stück Wurst in der anderen Hand auf eine Bank und beobachte eine Möwe auf einem Dalben, die wiederum mich beim Essen beobachtet. Ein kleiner dicker Mann mittleren Alters mit treuherzig blauen Augen wünscht mir guten Appetit, und wir benehmen uns, wie es das Klischee von norddeutscher Sprachmächtigkeit vorschreibt.

„Danke.“
„Schmeckt’s?“
„Ja, danke.“
„Na dann …“
„Ja.“
„Auf Urlaub?“
„Ja.“
„Na dann viel Spaß.“
„Danke, wird schon werden.“

Bei der Weiterfahrt ändert sich die Landschaft. Neben dem allgegenwärtigen Grün färben fettig glänzende Erdschollen die Felder schwarz ein. Es sind sorgfältig gestapelte, wie Dachschindeln übereinander liegende Torfsoden, die hier zum Trocknen ausliegen. Wir sind im ostfriesischen Fehngebiet. Das aus dem Niederländischen stammende Wort bedeutet „Moor“. Seit Jahrhunderten schon und auch heute noch wird hier der ökologisch höchst bedenkliche Torfabbau betrieben. Stichkanäle zur Entwässerung des Landes und für den Schiffstransport des Torfs wurden in das unwegsame Gelände getrieben. An ihnen liegen wie an einer Perlenschnur Siedlungen, die das Fehn im Namen tragen: Großefehn, Lütjensfehn, Rhauderfehn.

Wir fahren über Seitenstraßen, die die Fehnkanäle begleiten, und über schmale Brücken nach Leer. Die backsteinselige Kreisstadt liegt an der Mündung der Leda in die Ems. Aber kein Schwan lässt sich auf ihrem Wasser sehen. Es sei ja auch nicht anzunehmen, sage ich, meine kryptischen Worte erläuternd, dass Leda, die Gemahlin des Spartanerkönigs Tyndareos, ausgerechnet hier von Göttervater Zeus in der Gestalt eines Schwans höchstpersönlich geschwängert wurde.

„Sabbel nicht“, sagt Rotraud zu meinen Ausflügen in die griechische Mythologie, die hier, das muss ich zugeben, im plattesten, torf- und maisfarbenen Ostfriesland fehl am Platze sind. Am Hafen von Leer sitzen wir bei einem Kaffee im Freien und blicken sinnend auf das blankgeputzte Ensemble der denkmalgeschützten Häuser. Ich habe das getan, was ich immer tue, wenn ich unterwegs bin, ich habe mir eine lokale Gazette gekauft. In der „Ostfriesen-Zeitung“ lese ich, dass eine „Fehntjerin“ aus dem ostfriesischen Moorgebiet Deutsche Meisterin im Bodypainting geworden ist – und zwar mit der Arbeit „Shiva wacht“ im Fach „Special effects“. Ein Foto zeigt die ebenso Staunen erregenden wie bunten Bilder, die ihren Körper verzieren. „Wat dat nich allens gifft“, sagt Otto, und Rotraud ergänzt: „Ers-taunlich.“

Und sonst? Tja, min Deern, und guck mal Otto, hier, hier steht’s. Schwarz auf Weiß berichtet die Zeitung, dass der Maisanbau vor allem als Silomais im letzten Jahr um 15 Prozent gegenüber vorher zugenommen hat, dass in ganz Niedersachsen auf 28 Prozent, im Weser-Ems-Gebiet aber auf 44 Prozent der Ackerfläche Mais wächst und dass der Anbau traditioneller Feldfrüchte wie Weizen, Gerste und Roggen rückläufig ist.

Einen Skandal angesichts des Hungers in der Welt nennt Rotraud eine Politik, der den Anbau von Energiepflanzen zum Nachteil von Nahrungsmitteln fördert. Wir mögen ihr nicht widersprechen und schweigen bedrückt.

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