Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 3: In Bocholt

Von Hannes Hansen

Bocholt. Bocholt liegt im äußersten Nordwesten von Nordrhein-Westfalen und war einmal ein bedeutender Standort der Textilindustrie. Davon ist nichts mehr übrig geblieben. Die imposanten Fabrikgebäude an der Bocholter Au stehen als stumme Zeugen einer glanzvollen Vergangenheit funktionslos herum, und das Flüsschen, das die Industrie einst als Abwasserkanal und stinkende Kloake missbraucht hatte, darf wieder Luft holen und Angler beschäftigen. Trotz ökologischer Unbedenklichkeit ist die Gegenwart Bocholts weniger glanzvoll, dafür sauber, fröhlich, vulgär und laut. Statt der sorgfältig aufgemauerten, auch im Detail überzeugenden und noch im Verfall würdevollen neoklassizistischen Fabriken machen sich Stahl- und Glasbauten von abschreckender Banalität und Plumpheit breit und bezeugen den Wegwerfcharakter einer drittklassigen und schon wieder veralteten Architekturmode von voriger Woche.

Historisches Rathaus in Bocholt (Foto: Wikipedia)

Historisches Rathaus in Bocholt (Foto: Wikipedia)

In den schmalen Sträßchen und Gassen der Innenstadt, die großenteils noch dem mittelalterlichen Grundriss folgen, stehen auch nicht weiter bemerkenswerte Wohn- und Geschäftshäuser einer schlichten, phantasielosen und rein profitorientierten Nachkriegsmoderne. Kurz, in Bocholt sieht es aus wie fast überall in vergleichbaren Städten der Bundesrepublik, und allein das alte Rathaus im Stil der niederländischen Renaissance und die dem heiligen Georg, dem Drachentöter, geweihte spätgotische Hallenkirche bietet dem Auge Trost.

„Nun gib mal Rabatt“, sagt Rotraud, „und hör auf rumzumären. Wenn es nach dir ginge, stünden überall nur Architekturikonen vom Schlage einer Notre Dame oder eines Tadsch Mahal herum. Außerdem ist das keine Hallenkirche sondern eine Stutzbasilika.“

St. Georg Kirche in Bocholt (Foto: Wikipedia)

St. Georg Kirche in Bocholt (Foto: Wikipedia)

Und dabei wollen wir es belassen und lieber noch einen Schlummertrunk nehmen. Die Auswahl einer geeigneten Lokalität erweist sich als schwierig. Zwar dürfte Bocholt bei der Berechnung der Kneipendichte pro Quadratmeter eine deutsche Spitzenposition einnehmen, aber hier ist Rotraud die Musik zu schräg, dort Otto das Gebaren der Nachkommen ehrbarer, wiewohl in den meisten Fällen schon längst toter Textilarbeiter zu betont entspannt oder mir das Publikum zu pubertär rabaukig.

So landen wir dann schließlich am Tresen einer Kneipe mit der Inneneinrichtung vom Typ „Eiche altdeutsch mundgebissen“. Die Musik ist fest in deutscher Schlagervergangenheit verankert, und auch die Gäste passen zur Einrichtung. Neben Otto sitzen zwei Rentner über Eck. Der eine beweist mit einem wie mit der Axt gezogenen Scheitel, dass die Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hier andauern, der andere ist kahlköpfig, sieht aber so aus, als hätte er in Punkto exakter Frisurgeometrie seinem Kumpel einst in nichts nachgestanden. Beide sind schon leicht angetrunken und lassen offenen Mundes ihre Köpfe zunehmend tiefer sinken. Sie schrecken nur hoch, wenn die nur ganz wenig verblühte dralle Dunkelhaarige zwischen ihnen ihre dem Anschein nach, wie Rotraud mir flüsternd verrät, von einem so genannten Wonderbra aufgesteilten Brüste mal dem einen mal dem anderen der alten Knacker vor dem Gesicht pendeln lässt.

Kommunikation findet in Kürzestsätzen und in breitestem Westfälisch statt.

„Hasse dat mit die Elli gehört?“, fragt die Tresenfrau, die mit grellem Lippenrot, strohgelb gefärbten Haaren und einem wie auf die Haut gespritzten engen Pullover der Drallen, die die anderen mit Moni anreden, vergeblich Konkurrenz zu machen versucht.

„Nä, wat denn?“ will Wonderbra Moni wissen.
„Der ihre Kinder hat die Fürsorge geholt.“
„Wierklich?“
„Wenn ich dat doch sage.“

Schweigen. Dann der Gescheitelte:
„Is auch besser so.“
„Ja“, bestätigt der Kahlkopf.

Abermaliges Schweigen. Nach einer Weile wieder der Gescheitelte:
„Hasse dat mit die Stuämschäden bei die Versicherung duachgekriecht?“
„Nä, die machen noch Sperenzchen“, beschwert sich Moni.
„Musse dich gar nich auf einlassen.“
„Nä.“

So geht es eine Weile weiter, und wir erfahren aus den Satzfetzen, dass in der vorigen Woche ein Sturm durch Bocholt gezogen ist, eine Reihe von Bäumen entwurzelt und einige Häuser stark beschädigt hat. Auf das Haus der Drallen ist ein Baum gefallen und hat das Dach durchschlagen. Nach dem Sturm einsetzender Starkregen hat dann die unteren Geschosse unter Wasser gesetzt.

„Dat war ’ne richtige Sintflut war dat.“

Moni gibt sich philosophisch:
„Kannse nix bei machen.“
„Nä“, kommt die Antwort vom Kahlkopf.

In diesem Tonfall geht es eine Zeitlang weiter. Wir erfahren, dass die Elli schon wieder am Saufen ist und dass der Moni ihr Sohn eine Lehrstelle als Mechatroniker bei „Häbbert“ gefunden hat. Schließlich gehen wir, Otto und Rotraud wie gehabt ins Hotel, ich auf den Stellplatz, wo mein Wohnmobil steht.

← Teil 2 | Teil 4 →