Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 4: In Aachen
Von Hannes Hansen
Aachen. War der erst später der Große genannte Karl Deutscher oder war Charlemagne, wie unsere französischen Nachbarn ihn nennen, deren Landsmann? Weder noch, bin ich mir mit Jean Paul, den ich vor der Pfalzkapelle Karls in Aachen getroffen habe, einig. Karl-Charlemagne war Herrscher über das Frankenreich, ein multikulturelles Gebilde, das sich von der dänischen Grenze bis nach Nord- und Mittelitalien und vom heutigen Österreich bis Frankreich und Nordspanien erstreckte.
„Une bêtise“, eine Dummheit, nennt Jean Paul, ein in Deutsch und Französisch gleichermaßen gewandt parlierender Jesuitenpater aus Lothringen, den einst bitter geführten Streit um die nationale Identität des jeweils als Gründer der Nation gefeierten Herrschers. Im Frankenreich sprach man ober-, mittel- und niederdeutsche Dialekte, Frühniederländisch, Keltisch, Awarisch, Altfranzösisch, Okzitanisch, Italienisch, Spanisch und noch eine ganze Reihe anderer Sprachen. Urkunden wurde auf Latein ausgestellt, ein ziemlich krudes Latein, die elegante Sprache eines Cäsar, eines Cicero oder Tacitus hatte man vergessen. Schreiben konnten nur Mönche und andere Kleriker, Karl war Analphabet. Und Nationen im heutigen Sinne gab es noch gar nicht.
Folgerichtig empfand sich Karl auch nicht als Deutscher oder Franzose, sondern als Franke, vor allem aber als römischer Kaiser, als legitimer Nachfolger Augustus’, Hadrians oder Mark Aurels. Als solcher ließ er sich zu Ostern 800 Anno Domini vom Papst zum Kaiser krönen. Zum Kaiser des „Imperium Romanum“, des römischen Reichs, als dessen Eneuerer sich Karl verstand. Der Zusatz „Deutscher Nation“ taucht erst Jahrhunderte später auf. Dem Papst versprach der frisch gekrönte Kaiser neuer Lesart Hilfe, sollte es im Kirchenstaat einmal wieder Ärger mit den italienischen Nachbarn geben.
„Wie sagt man?“, fragt Jean Paul, „Manus manum lavat?“
„Eine Hand wäscht die andere.“
Die „renovatio imperii“ war Karl eine Herzenssache. Der Analphabet sorgte für die Einrichtung von Klosterschulen, für die bessere Ausbildung von Klerikern und die Sammlung klassischer Texte, ja sogar von Volksliedern, erzählt Jean Paul weiter.
„Von deutschen Volksliedern, denken Sie mal“, sagt er und lächelt verschmitzt.

Analphabet, doch Förderer der europäischen Kultur: Karl der Große – Relief auf der Frontseite des Karlsschreins (Foto: Wikipedia)
Wir stehen im zweistöckigen Oktogon, dem achteckigen innersten Kern der Pfalzkapelle Karls, die er in seinem Lieblings-aufenthaltsort Aachen neben seiner Königspfalz errichten ließ. Der Hof war einer von vielen im Frankenreich, Karl war wie alle frühmittelalterlichen Könige und Kaiser ein „Reisekönig“. Zum einen, weil es ja ständig Auseinandersetzungen mit unbotmäßigen Herzögen, Grafen, Städten oder Stammesfürsten gab, zum anderen, weil so ein überaus gefräßiger Hofstaat nach ein paar Wochen oder Monaten schlicht alle Essensvorräte der Gegend verspeist hatte. In Aachen, im schon den Römern bekannten Badeort Aquis Palatium, wärmte der Kaiser regelmäßig seine müden Glieder und erholte sich von den Strapazen seiner zahlreichen Kriegszüge. Etwa gegen die Sachsen, denen er das Christentum mit Gewalt, mit Feuer, Mord, Totschlag und Vergewaltigung einbläute. Was im Mittelalter als normale Verhaltensnorm eines Herrschers galt, relativiert Jean Paul.
„Was meinen sie, wie man sich in Byzanz, am Hof des oströmischen Kaisers aufführte“, sagt er. „Gegen deren ausgeklügelte Grausamkeiten war Charlemagne ein Waisenknabe.“
Dass die Kirche ihn dafür heilig sprach, musste aber nicht sein, finden wir.
„Wissen Sie, welche Bedeutung das Achteck hat?“, fragt mich Jean Paul.
Nee, keine Ahnung.
„Eine symbolische. Als Erinnerung an die Vollendung der Schöpfung am achten Tag.“
Aha. Solche Kenntnisse wird man ja von einem Jesuiten erwarten dürfen, denke ich, sage aber nichts.
Im zweiten Stock des Oktogons stehen zwischen den Rundbögen, die das Kuppelgewölbe der Pfalzkapelle tragen, jeweils drei Säulen. Jetzt will ich einmal mit meinem historischen Wissen glänzen. Deshalb sage ich:
„Die Säulen hat Karl extra aus Ravenna kommen lassen.“
„Ja. Und aus Rom.“
Ob nun Ravenna, Rom oder sonstwo im alten römischen Reich, auch diese aufwendige Aktion, sind wir uns wieder einmal einig, hatte natürlich eine symbolische Funktion. Die Säulen, die einst das Reich der römischen Kaiser trugen, stützen jetzt das Karls-Charlemagnes. Und dass den Thron Karls im Westen der Galerie, von welcher herausgehobenen Stelle er dem Gottesdienst im Osten folgen konnte, andere so genannte Spolien – wiederverwendete antike Gegenstände und Bruchstücke – zieren, deutet ebenso in die gleiche Richtung wie der römische Sarkophag in der Schatzkammer der Kapelle, in der Karl bestattet wurde. Heute ist er leer, weil Karls Gebeine jetzt im Karlsschrein im Chor der gotischen Chorhalle, einem Anbau aus der Zeit um 1400, ruhen.
Dieser um 1200 gefertigte Schrein ist eine maaslänische Goldschmiedearbeit, stammt also aus dem flämischen-niederländischen Gebiet. An so viel Europäertum wie es in Aaachen konzentriert zu erleben ist, sollten sich die heutigen Nachfolger Karls ein Beispiel nehmen, finden Jean Paul und ich. Der Karlspreis allein, der jedes Jahr verliehen wird, ist da nur eine schöne Geste, der Taten folgen sollten.
24. Mai 2016 um 17:37
Super interessant und so toll geschrieben. Freue mich auf die nächste Geschichte