Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 5: In Mechelen
Von Hannes Hansen
Mechelen. Gemessen schlägt es zwölf vom Turm der St. Rombouts-Kathedrale in Mechelen, der als der schönste ganz Flanderns gilt. Kurz nach dem letzten Glockenschlag schweben die Töne einer Mozartschen Melodie über den Grote Markt, das repräsentative Zentrum der Stadt. Der Stadsbeiaardier, der Stadtglockenspieler, gibt ein Konzert auf den neunundvierzig Glocken des Glockenspiels aus fünf Jahrhunderten, eines Klangkörpers, der vier Oktaven umfasst. Hoch oben über der Stadt sitzt er in einer kleinen Stube vor einer klavierähnlichen Apparatur, aus deren Rückwand Stöcke anstelle von Tasten ragen, die er mit seinen Fäusten bearbeitet. Ein Gestänge überträgt die Bewegung auf Klöppel, die wiederum die Glocken des Beiaards anschlagen, erklärt mir Clive.
„Wonderful, isn’t it?“, sagt er und das finde ich auch. Wir sitzen vor einem Café am Markt und lauschen der Musik. Clive Williams stammt aus Cincinnati. Dort hat er am Konservatorium Klavier studiert. Jetzt will er in Mechelen eine Ausbildung zum Glockenspieler machen. Die staatliche Beiaard-Schule, weiß Clive, ist die einzige Ausbildungsstätte für Glockenspieler in der ganzen Welt, und von überall her kommen die Studenten. Kein Wunder, denn von den etwa einhundert Glockenspielen, die es auf der Welt gibt, befinden sich über sechzig in Belgien. Auf Kirchtürmen, Belfrieden, den Türmen von Rathäusern und Tuchhallen sind sie zu finden. Die Auswahlkriterien für die angehenden Studenten sind streng, ein abgeschlossenes Klavierstudium und ein Probespiel sind de rigueur.
Clive hat die Prüfung bestanden. In zwei Monaten beginnt seine dreijährige Ausbildung an der Schule, die nach ihrem Gründer Jef Denijn benannt ist, einem, wie Clive erfahren haben will, ebenso strengen wie mitunter mystisch entrückten Lehrer, der bei seinen Schülern keine Unaufmerksamkeit duldete, sie aber, wenn sie seinen Maßstäben genügten, bedingungslos förderte. „That’s how it must be“, sagt Clive, so muss es sein. Neben dem eigentlichen Glockenspiel wird er Unterricht in Instrumentenkunde, Komposition und Geschichte des Glockenspiels bekommen.
Wir zahlen und brechen auf. Clive folgt mir in die St. Rombouts-Kathedrale, einen lichten Bau im Stil der Brabanter Hochgotik. Beeindruckend die gewaltige, vielfigurige Kanzel des Bildschnitzers Michiel van der Voort, die die Bekehrung Norberts, des Begründers des Prämonstratenserordens, zeigt. Aus der Kühle der Kathedrale gehen wir zurück auf den in der Mittagssonne brütenden Grote Markt, der heute vollgestellt ist mit Buden, Verkaufsständen und provisorischen Musikbühnen. Ein 1000-Kilometer-Radrennen wird hier im radsportverrückten Belgien enden, auf dem Spenden und Sponsorengelder für den Kampf gegen den Krebs gesammelt werden.
Es ist laut, heiß und vulgär und wir beschließen zu gehen. Nur kurz werfen wir noch einen Blick auf das Rathaus aus dem Mittelalter und die Fassaden der schmalen, hohen Häuser aus verschiedenen Jahrhunderten, die den Markt umstehen und die ihre Gestalt mit der sich in die Tiefe erstreckenden Zimmerflucht einem Gesetz verdanken, das sie nach der Breite ihrer Front zur Straße besteuerte. Auf dem Bildfeld eines der Giebel ist ein Manneken Pis zu sehen, das auf die Touristenschwärme zu pinkeln scheint. Ein Wandbild schließlich in einer nahen Straße zeigt eine Kabarett- oder Karnevalsszene, die von ferne an die Bilder James Ensors erinnern.
Und das war’s für heute. Schon auf der Fahrt nach Mechelen habe ich mir einen Campingplatz ein paar Kilometer weiter südlich ausgesucht, etwa dreißig Kilometer von Brüssel ausgesucht. Nichts deutet in dessen Umkreis auf die Schönheit flämischer Städte hin, auf die wohlproportionierte Gestaltung ihrer Marktplätze, die hoch aufragenden gotischen Kirchen, die reich gestalteten Rathäuser und Tuchhallen, auf die Fassaden ihrer Bürgerhäuser mit den Treppen-, Schweif- oder Volutengiebeln aus gotischer, Renaissance und Barockzeit. Nichts auch auf die verschwiegenen Bergwälder der Ardennen im Südosten Belgiens, das sich geheimnisvol verschließende Hohe Venn an der Grenze zu Deutschland oder die Stille schmaler Kanäle mit den pappelbestandenen Ufern.
In einem Umkreis von gut fünfzig Kilometern rund um Brüssel ziehen sich die Vorstädte entlang der belgischen Nationalstraßen hin, ein einziges gesichtloses Suburbia aus meist neuen, aber potthässlichen Häusern, staubigen kleinen Vorgärten, vulgären neuen und schäbigen alten Kneipen und Gewerbebetrieben, Möbelfabriken, Einkaufszentren und Tankstellen, für deren Gestaltung eine anständige Geschmacksdiktatur den Architekten, die so etwas verbrochen haben, erst einmal ein Dutzend Hiebe auf die Fußsohlen verordnen und sie danach zu siebenjährigem Zwangsaufenthalt in solcher Trostlosigkeit verdonnern würde. Der in ganz Europa und vermutlich der übrigen Welt übliche, sauer vergorene architektonische Einheitsbrei also, nur dass hier im dicht besiedelten Belgien das alles in besonders konzentrierter Form auftritt und nur selten den Blick auf weidende Kühe und sich gemächlich durch Wiesen und Weiden schlängelnde Flüsschen freigibt, auf eine Landschaft wie auf den Bildern Pieter Breughels und denen niederländischer Maler des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts.
Nur ein paar Kilometer Fahrt durch ähnlich verwüstete Landschaft sind es zu dem einfachen, aber – oh Wunder – recht idyllisch zwischen Bäumen gelegenen Campingplatz, auf dem ich die Nacht verbringen werde. In der Gesellschaft freundlicher Belgier, die zum Teil das ganze Jahr hier wohnen, trinke ich ein Leffe; besser gesagt dessen vier. Was ich besser hätte sein lassen, denn das leckere Trappistenbier hat einen Alkoholgehalt von 6,6 Prozent.
Man spricht vorwiegend Flämisch, mit einer Frau aus dem offiziell zweisprachigen Brüssel unterhalte ich mich auf Französisch und mit den anderen radebreche ich in einem Gemisch aus Plattdeutsch und dem verwandten Niederländisch-Flämisch. Von dem Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen ist nichts zu spüren. Mit Bob kann ich mich auf Deutsch unterhalten. Der Sohn eines Belgiers und einer Frau aus Ingolstadt lamentiert in reinem, wiewohl grammatikalisch nicht durchweg korrektem Oberbayerisch über sein Unglück mit den Frauen: „Nix hob i von eana ghobt. Bloß mei Göld wolltens hom.“
Meine neue Bekanntschaft und ich reden uns in eine trunkselige Vertraulichkeit, die in einem Rundumschlag Bobs gegen alles Belgische endet: „Wos soll i holten von einer Stadt wie Brüssel, die wo neununzwanzig verschiedne Polizeidirektionen hot, die olle net wissen, wos die andere tut.“ Überhaupt: „Wer schlau ist, geht weg. Die Flamen nach Amsterdam, die Wallonen nach Paris. Zurück bleiben zweisprachige Idioten. Solche wie ich.“
Schreibe einen Kommentar