Johannes von Matuschka vertreibt mit seiner Kieler Inszenierung den Naturalismus aus Strindbergs „Fräulein Julie“
Von Christoph Munk
Kiel. Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt. Leider fruchtet die sprichwörtliche Weisheit im Seelenleben von Fräulein Julie nichts. Im Gegenteil: Es ist gerade ihr höherer Stand – nach heutigem Maßstab ihr Reichtum –, der die Titelfigur von August Strindbergs „naturalistischem Trauerspiel“ ins Verderben stürzt. Einerseits vielschichtig und klug, andererseits drastisch und hochdramatisch offenbart diesen Effekt die Inszenierung Johannes von Matuschkas im Kieler Schauspiel. Intensiver, nachhaltiger Beifall nach der Premiere war der Lohn.

Belauern und spielend Beobachten: Agnes Richter (links), Isabel Baumert, Felix Zimmer. (Foto: Olaf Struck)
Das Fräulein tanzt – traumentrückt und weltverloren. Es ist Mittsommernacht, da gehen in Schweden die Regeln des Alltags unter. Julie tanzt. Im leichten, fliegenden, gelben Kleid voller Sonne und Wonne; in einem dieser trunkenen Jazz-Walzer von Schostakowitsch. Das möchte in alle Ewigkeit nicht aufhören. So schön: ein betörender Anfang in einem Trauerspiel. Wenn das nur immer so weiterginge. Tut es aber nicht.
Denn „das Fräulein ist wieder verrückt, total verrückt“, konstatiert Jean, der Diener des Grafen. Zusammen mit seiner Verlobten, der Köchin Kristin, begutachtet er die Tänzerin von oben. Christoph Rufers Bühnenraum verschafft ihm eine Position der Überlegenheit. Denn der ins Monumentale vergrößerte Hackblock erinnert nicht nur an die im Text vorgesehene gräfliche Küche, sondern er zeigt auch immer wieder die wahren, widerstreitenden Verhältnisse: Macht gegen Ohnmacht, Herrschen gegen Dienern, Gewalt gegen Leiden. Darin steckt Symbolkraft wie so oft in Matuschkas komplexer Inszenierung. Darin wird beispielsweise aus dem Sonnenkleid Julies geliebter Zeisig, der geschlachtet wird, ehe er davonfliegen kann.
Im Moment fühlen sich Jean und Kristin oben, erhoben, weil sie finden, das Julie sonderbar tanzt und „einfach verrückt ist“. Besonders verrückt seit „ihre Verlobung aufgehoben wurde“. Aber das Fräulein besinnt sich bald. Sie fordert den Diener zum Tanz. Und damit beginnt das Unheil. Denn mit dem Befehl will sie die Ordnung wieder auf die Füße stellen. Bis aus dem Tanz ein unziemlicher Flirt und aus der standeswidrigen Verführung eine kopflose Hingabe wird. Da sind die Verhältnisse wieder auf den Kopf gestellt und die Figuren folgen Strindbergs striktem Willen und gnadenloser Struktur: Julie fällt, und Jean steigt. Es gibt kein Treffen in der Mitte, keine gemeinsame Flucht, keinen Traum vom Hotel am Comer See. Denn dazu fehlen Julie die finanziellen Mittel. Eben: „Geld allein …“
Zum sinnlichen Genuss an Johannes von Matuschkas sinnreicher Inszenierung gehört die Beobachtung, wie er Strindbergs naturalistische Vorgaben ignoriert und stattdessen ihre Muster entschlossen sprengt. Aktionen sind mit symbolhaften Handlungen aufgeladen; der musikalische Soundtrack stimuliert die Stimmungen; eine Videokamera leuchtet in den Gesichtern unbarmherzig Seelenzustände aus. Vor allem aber: Matuschka betreibt dank der Energie seiner Akteure ein rasantes Körperspiel: beziehungsreich, beklemmend, hocherotisch, leidenschaftlich.

Noch triumphiert Julie (Agnes Richter) über Kristin (Isabel Baumert), Jean (Felix Zimmer) beobachtet. (Foto: Olaf Struck)
Das Darstellertrio durchlebt diese Herausforderung wie eine Passion. Agnes Richter besonders: Sie erlöst Julie von allen plakativen Vorgaben. Wenn sie losgelöst zu tanzen scheint, lässt sie schon Zusammenbrüche ahnen; wenn sie befiehlt, lässt sie Schwäche durchschimmern; wenn sie zu lieben meint, macht sie Leiden erkennbar; im vermeintlichen Triumph lauert bei ihr schon die tiefe Verzweiflung. So entwirft Richter ein faszinierendes Bild innerer Zerrissenheit: So hell und schwerelos sie in die Aufführung hineinfliegt, so dunkel blutig stürzt sie am Ende ab. Was sie mit purer Schönheit begonnen hat, beschließt sie in erbarmungswürdigem Elend. In Fluten von Blut darf Agnes Richter die finale, große Tragödie spielen.
Felix Zimmer verweigert sich ebenfalls dem Rollenschema des Dieners Jean. Aus der Servilität des Beginns schon entwickeln sich Widerwillen und Aufmüpfigkeit. Der Schauspieler nutzt von da an seine eigentümliche Steifheit, um daraus Widerstandskräfte wachsen zu lassen. In alle anscheinend festgefügte Überzeugungen lässt er Zweifel dringen. Selbst die Eroberung Julies hält seinen Jean davon ab, überheblich zu werden. Wo es am wenigsten zu erwarten ist, zeigt auch er jene zwiespältigen Gefühle, die sein Autor Strindberg so energisch bekämpfen wollte, weil er sie für „überflüssig und schädlich“ hielt. Das ergibt einen schön aus der Figur herausgekitzelten Widerspruch.
Die reizvollste Überraschung aber gelingt dem Regisseur mit der Aufwertung der Köchin Kristin zur dritten, fast gleichwertigen Gestalt im Strindberg-Terzett, gewissermaßen wie einen oft stillen, aber hoch auffälligen „Basso ostinato“. Isabel Baumert führt das mit gewissenhafter, intensiver Präzision aus: immer präsent, hartnäckige Beobachterin, Jeans Kontrolleule, Spiegelfigur, geschwisterliche Freundin Julies, Alter Ego, Doppelgängerin, Gegenspielerin, Retterin, am Ende doch eher Richterin. Insgesamt so vielschichtig und schillernd, dass es zur Kurzweil beiträgt, alles in diesem ohnehin zeitlich überschaubaren Einakter zu enträtseln.
Anders gesagt: Nicht alles in Johannes von Matuschkas Inszenierung von August Strindbergs „Fräulein Julie“ lässt sich im Gedankenflug restlos deuten, geschweige denn erschöpfend beschreiben. Aber: „Endlich mal richtig gutes Theater in diesem Haus“, resümiert ein urteilssicherer Besucher. Dem ist nicht leicht zu widersprechen. Schade, dass es nur noch sieben Mal zu sehen und weitgehend ausverkauft ist.
Termine und Info: www.theater-kiel.de
28. Mai 2016 um 20:05
Macht Lust auf Theater
30. Mai 2016 um 12:51
Lieber Christoph,
dein Kommentar ist wieder eine phänomenale Hilfe, dieses hervorragende, komplizierte Konstrukt von Regie, Bühnenbild, Kostümen, großer Schauspielkunst ein Stück tiefer zu durchdringen.
Tausend Dank
Ulla Schlüter