Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 6: In Lier

Von Hannes Hansen

Lier. Hoch ragt er auf, der Riesenturm der St. Gummarus-Kirche in Lier, die ihre Verwandtschaft mit der Kathedrale im nahen Mechelen nicht leugnen kann. Menschenleer und licht ist der Innenraum, gewaltige Rundpfeiler stützen hier wie dort das Gewölbe – Brabanter Gotik in Reinkultur. Still liegt die Kirche im Sonnenglast des späten Vormittags, und stünden nicht ein paar Autos auf dem kleinen Platz vor dem Bau aus weiß schimmerndem Kalksandstein, man könnte sich ins Mittelalter versetzt fühlen.

Lier – Grote Markt

Lier – Grote Markt (Fotos: Hannes Hansen)

Nur ein paar Schritte sind es zum zentralen Marktplatz, der wieder einmal – wie fast überall in Flandern – Grote Markt heißt. Heute ist Blumenmarkt und bei allem Gewusel geht es ruhig und gelassen zu. Käufer und Verkäufer scheinen sich zu kennen, man hat Zeit für ein Schwätzchen, das Wort „Eile“ sucht man im Vokabular der Lierer wohl vergebens.

Gut situierte, gediegene und Jahrhunderte alte Bürgerlichkeit strahlen sie aus, die Häuser rund um den Markt und in den Nebenstraßen mit ihren Fassaden aus verschiedenen Jahrhunderten. Doch was sich hier als Gotik, Renaissance, Barock oder Klassizismus geriert, entstand erst nach dem ersten Weltkrieg, in dem Lier schwer gelitten hat, erzählt mir der Mann, der mich beim Fotografieren der Häuser angesprochen hat und der sich als Dries van der Welle vorstellt. Beim Wiederaufbau befanden die Stadtväter, man wolle nicht die Fassaden des neunzehnten Jahrhunderts wiederherstellen sondern sich lieber eine funkelniegelnagelneue Vergangenheit zulegen und sich historischer Vorbilder aus der architektonischen Grabbelkiste bedienen.

Lier – Gracht

Lier – Gracht

„So wie jetzt haben die Häuser nie ausgesehen“, sagt Dries. „Das ist alles aus dem historischen Fertigbaukasten, Fake, Micky-Maus-Architektur.“
Mir ist die denkmalpflegerische Akkuratesse, die aus Dries’ Worten spricht, egal und deshalb sage ich:
„Das passt aber. Ich finde es schön.“
Dries grinst und sagt:
„Ich auch. Obwohl ich das als Architekt gar nicht sagen dürfte.“

Dries ist Mitarbeiter im Stadtbauamt des gerade einmal zehn Kilometer entfernten Antwerpen, wohnt aber in Lier und fährt jeden Tag mit dem Zug zur Arbeit. Wie auch viele andere, meist Beamte und Medienleute aus Brüssel. Sie alle, bestätigt Dries meinen Eindruck, lieben die entspannte Atmosphäre der Stadt, die Geruhsamkeit des Lebens fernab dem Getriebe und Lärm der Großstadt.

„Lierke – Plezierke, schon mal gehört?“ fragt Dries.
Nein, habe ich nicht.
„Das bedeutet, wie sagt man auf Deutsch, Freude, Spaß.“
„Lebenslust?“
„Ja, Lebenslust.“

Ein paar Minuten später höre ich die Worte noch einmal, vom Museumswärter des Opsomer-Timmermans-Museums an der Kleinen Nete, die zusammen mit der Großen Nete die Stadt wie ein Gürtel aus Wasser umgibt.
„Ja“, sagt er, „das hat Felix Timmermans geschrieben. Er ist ja in Lier geboren und hat sein ganzes Leben hier gelebt. Kennen Sie ihn?“

Felix Timmermans

Felix Timmermans

Aber gewiss doch. Als Jugendlicher habe ich seine Bücher verschlungen. „Das Jesuskind in Flandern“, die Lebensschilderungen der flämischen Maler Adriaan Brouwer und Pieter Breughel, vor allem aber die das Leben aus dem Gefühl tiefster Frömmigkeit feiernden Romane „Bauernpsalm“ und „Pallieter“, deren Helden „Gott loben, aber mit einem Stück Speck im Munde.“ Ich übersetze die Worte in ein holperiges Englisch, und der Museumswärter strahlt. Und weil ich der einzige Besucher an diesem frühen Nachmittag bin, bekomme ich eine Privatführung durch das Museum.

Wir fangen mit den Räumen an, die dem Werk des Malers Isidoor Opsomer (1878 – 1947), einem Nachimpressionisten, gewidmet sind. „Baron’ Opsomer“, betont mein Führer und grient. „Die Königin hat bei der Verleihung des Adelstitels ein Wort mitgeredet. Die beiden hatten, sagt man“, er hebt entschuldigend die Hände, „ein mehr als freundschaftliches Verhältnis.“

So wird man also adelig, denke ich. Sich nach oben schlafen ist ja schon immer ein probates Mittel des sozialen Aufstiegs gewesen. Aber gleich eine Königin?

Opsomer, Christus predigt in Lier

Opsomer, Christus predigt in Lier

Wir bleiben vor einem ganz ungewöhnlichen Bild stehen. Jesus sitzt in einem Fischerboot am Kai der Nete und predigt dem ihm gegenüber sitzenden alten Fischer und den Bürgern von Lier. Dicht aneinander gedrängt stehen sie am Kaigeländer vor der Kulisse der Stadt und lauschen seinen Worten, scheinbar ganz verdutzt darüber, dass es den Heiland ausgerechnet in die Kleinstadt Lier, die gerade einmal knapp 35.000 Einwohner zählt, verschlagen hat. Und auch ich bin erstaunt über das Bild, spielt die Szene doch nicht in irgendwie grauer Vorzeit, sondern ganz offensichtlich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Jesus als unser Zeitgenosse, wer hätte das gedacht.

van Boeckelaar

van Boeckels

Mein Museumswärter führt mich durch weitere Räume, in denen Arbeiten Lodwijk van Boeckels (1848 – 1944), eines weiteren einst weltweit berühmten Bürgers Liers, präsentiert werden. Auf der Pariser Weltausstellung von 1900, erzählt mein Cicerone, errang der Kunstschmied mit seinen Arbeiten den ersten Preis vor fast vierhundert Mitbewerbern, und ich staune pflichtgemäß, als ich auch noch erfahre, dass van Boeckel die Ehre hatte, das Gitter vor dem Weißen Haus in Washington zu gestalten.

Aber eigentlich freue ich mich noch mehr darüber, dass der hünenhafte Mann neben dem Königinbeglücker Opsomer ein weiterer Vertreter des „Lierke – Plezierke“ war. „Er hatte drei Leidenschaften: seine Arbeit – er arbeitete oft zwölf und mehr Stunden am Tag –, den Alkohol und die Frauen“, erzählt mein Guide. Wie schön, denke ich und sage es auch. Scheint dem Berserker mit dem Schlapphut, den er nie abgenommen haben soll, ja nicht geschadet zu haben.

Felix Timmermans, Zeichnung zu "Bauernpsalm"

Felix Timmermans, Zeichnung zu „Bauernpsalm“

Und dann kommen wir zu dem Erfinder des Wortspiels „Lierke – Plezierke“, zu Felix Timmermans. Neben seinen Büchern, neben Fotografien und Zeitungsartikeln zeigt das Museum, das seinen Namen trägt, das zeichnerische und malerische Werk des flämischen Nationaldichters und dreimaligen Nobelpreiskandidaten, der die Umschläge seiner Bücher selbst gestaltete und liebevolle, ein wenig naiv wirkende und an Volkskunst erinnernde Zeichnungen und Aquarelle zu ihnen beisteuerte.

Sein Werk wurde gerade auch in Deutschland lange Zeit sehr geschätzt. Die Schilderung einer daseinsfrommen, biedermeierlichen Idylle und satter ländlicher Lebenslust traf einen Nerv der Zeit. In Belgien war die Begeisterung über den Erfolg des Schriftstellers nicht immer und vor allem nicht überall so einhellig, war Timmermans doch ein flämischer Nationalist, der gegen die Vormachtstellung der französischsprachigen Wallonen aus dem Süden des Landes heftig protestierte und wohl auch so etwas wie ein Pangermanist war, dem manche Vorstellungen der Nazis nicht ganz fremd waren.

Aber nein, wehrt mein Guide ab, so war das nicht. Ja, gewiss habe Timmermans noch 1943 in Hamburg einen Literaturpreis entgegen genommen und sich von den Nazigrößen loben lassen, aber das sei auch alles gewesen. Ein Nazi, nein das war er nicht, auch kein Mitläufer, ist sich der Museumswärter sicher. Der wallonischen Elite, die das Land damals beherrschte, sei der Vorwurf gerade recht gekommen, um den Kampf der Flamen um Gleichberechtigung zu desavouieren.

Da ist er wieder, der flämisch-wallonische Konflikt, den die Flamen seit dem Niedergang der alten Industrien Kohle und Stahl in Wallonien längst gewonnen haben. Aber dazu sage ich nichts, sondern verabschiede mich von dem freundlichen Mann, der mich über eine Stunde durch „sein“ Museum, das ihm am Herzen liegt, mit viel Sachverstand, solidem Wissen und warmherziger Liebe geführt hat.

Lier – Begijnenhof

Lier – Begijnenhof

Zeit zum Mittagessen. Zander aus der Nete, hm, eben „Lieke – Plezierke“, serviert man mir im Restaurant gegenüber dem Museum. Ein Glas Wein dazu? Oder Bier? Nein, heute lieber nicht, sonst schlafe ich in der Mittagshitze ein und habe keine Energie für den Besuch des Begijnenhofs mehr. Solche Gemeinschaftssiedlungen von zwar frommen und unverheirateten, aber an keine Ordensregel gebundenen Frauen – Begijnen –, die die Gemeinschaft jederzeit verlassen und heiraten durften, gab es einst überall in den katholischen Niederlanden. Nicht immer zur Freude der Kirche und ihrer Vertreter, denen die Unabhängigkeit der Begijnen oft genug ein Dorn im Auge und Anlass zu repressiven Maßnahmen war. Meist ohne Erfolg. Die letzte Begijne, so lasse ich mir erzählen, starb vor etwa fünfzig Jahren. Heute wohnen in den meist einstöckigen Häusern der ehemaligen Begijnen-Höfen mit ihren lauschigen Winkeln, kleinen Plätzen und Gärtchen Rentner und Rentnerinnen neben jungen Familien. Die Wohnungen sind begehrt wegen ihrer Abgeschiedenheit und Ruhe.

Der Begijnenhof in Lier ist der größte noch erhaltene Flanderns. Eine fast klösterliche Mittagsruhe liegt über den Häusern und Gassen, die nur der Glockenschlag vom Turm der barocken Kirche unterbricht.

← Teil 5 | Teil 7 →