Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 7: Im Elsass

Von Hannes Hansen

Sessenheim – Sélestat. Ich bin zwar nicht, wie weiland Goethe, „geschwind zu Pferde“ ins elsässische Sessenheim, gekommen, sondern mit meinem Campingbus, aber „Der Abend wiegte schon die Erde, und von den Bergen hing die Nacht“, ganz wie in seinem Gedicht „Willkommen und Abschied“. Zu spät, um etwas zu unternehmen, und so verziehe ich mich auf einen nahe gelegenen Campingplatz.

Friederike Brion

Friederike Brion

Am nächsten Morgen schlendere ich durch den hübschen kleinen Ort mit Fachwerkhäusern und Blumenkästen vor den Fenstern, wie man sie im Elsass zuhauf findet. Eigentlich nicht weiter bemerkenswert, wäre er unter den Goethe-Freunden in aller Welt nicht berühmt. Schließlich traf hier der gerade einmal einundzwanzigjährige Jurastudent Johann Wolfgang Goethe im Herbst des Jahres 1770 die drei Jahre jüngere Pfarrerstochter Friederike Brion und entbrannte umgehend in heftiger Liebe zu ihr. Einer Liebe, die die Angebetete schon bald erwiderte, was, wie wir sehen werden, ihr nicht gut bekam..

Vater Goethe hatte den jungen Dichter nach Straßburg geschickt, damit der endlich, nach verbummelten Studienjahren in Leipzig, einer ersten Liebschaft und schwerer Krankheit an der dortigen Universität sein juristisches Examen ablegte. Was auch klappte. Allzu schwer scheint dem Kandidaten der Rechte das Studium nicht gefallen zu sein, denn er fand ausgiebig Zeit, die Umgebung in Begleitung eines Freundes und hoch zu Ross zu erkunden. Und so kam er ins damals noch mit einem „s“ geschriebene Sesenheim, heute Sessenheim, immerhin vierzig Kilometer von Straßburg entfernt. Eine hübsche Tagesreise, die der verliebte Mann des Öfteren wiederholte. Die beiden Liebenden machten, was Verliebte so tun, sie scherzten, herzten und küssten sich, schworen sich Treue und unternahmen lange Spaziergänge. Wenige Monate später, im Frühjahr 1771, konnte die enthusiasmierte Literaturwelt sich über den dichterischen Ertrag dieser Liebe freuen: Goethe veröffentlichte die „Sesenheimer Lieder“, die die Literaturwissenschaft zu den Gründungstexten des „Sturm und Drang“ zählt, der Schluss machte mit der vertändelten Anakreontik des Rokoko. Heute noch in jeder Anthologie deutscher Lyrik zu findende Gedichte wie das „Mailied“ (Wie herrlich leuchtet mir die Natur) und „Heideröslein“ (Sah ein Knab ein Röslein stehen) gehören zu den bekanntesten, vor allem aber auch „Willkommen und Abschied“, eines der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache:

Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde,
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht,
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und von den Bergen hing die Nacht.
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Wie ein getürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich,
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah schläfrig aus dem Duft hervor.
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr:
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch tausendfacher war mein Mut:
Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloss in Glut.

Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz
In deinen Küssen, welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden
Und sah dir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!

Goethe hinterließ Spuren in Ses(s)enheim: Das Mémorial Goethe dortselbst. (Foto: hah)

Goethe hinterließ Spuren in Ses(s)enheim: Das Mémorial Goethe dortselbst. (Foto: hah)

An diesem leicht verregneten Maitag schlendere ich also durch das am frühen Morgen scheinbar menschenleere Städtchen, durch die „Rue Goethe“ und die „Rue Frédérique Brion“ und vorbei an der „École Frédérique Brion“ zum „Mémorial Goethe“, einer kleinen Gedenkstätte, die von der Liebschaft und ihrem dichterischen Ertrag erzählt und Schautafeln, Bilder und ein paar Devotionalien liebevoll präsentiert. Man weiß, was man dem deutschen Dichterfürsten und der heimischen Pfarrerstochter verdankt.

Der bewusste Pavillon, wo sich Johann Wolfgang mit Friederike traf. (Foto: hah)

Der bewusste Pavillon, wo sich Johann Wolfgang mit Friederike traf. (Foto: hah)

Da der dem „Mémorial Goethe“ gegenüber liegende Gasthof, in dem der Besitzer ein kleines Goethe-Museum eingerichtet hat, heute geschlossen ist, gehe ich weiter ans andere Ende des Ortes zum „Tumulus Frédérique“, einem frühgeschichtlichen Grabhügel in einem kleinen Wäldchen. Dorthin sollen die beiden Liebenden Händchen haltend häufig gewandert sein, um, wie es Verliebte in aller Welt tun, mit einander alleine zu sein. Außer einem kleinen Pavillon – dem dritten bereits – und einer Hinweistafel ist hier nicht viel zu sehen oder von der Magie einer Liebe zu spüren, die heute noch Menschen in ihren Bann zu schlagen vermag.

Stadttor von Sélestat (Foto: hah)

Stadttor von Sélestat (Foto: hah)

Bevor ich mich auf den Weg ins etwa siebzig Kilometer entfernte Sélestat mache, erinnere ich mich noch schnell daran, dass diese Liebe nicht von großer Dauer war. Schon im Frühsommer 1771 löste der Patriziersohn Goethe die Verbindung; unter Schmerzen zwar, unter Gewissensbissen und Tränengergüssen, wie er Jahrzehnte später in „Dichtung und Wahrheit“ schreibt, aber endgültig. Die Verbindung mit einer schlichten Pfarrerstochter, einem Mädchen aus dem Volk, erschien ihm doch wohl recht unpassend. Hier wiederholte sich ein Verhalten, das schon in Leipzig zum Bruch mit der Wirtshaustochter Anna Catharina Schönkopf geführt hatte. Doch die, sein „Käthchen“, seine „Annette“ aus rokokohaft verspielten Gedichten, erholte sich schnell vom Verlust ihrer Liebe. Friederike dagegen wohl nie. Als Jakob Michael Reinhold Lenz, pikanterweise in späteren Jahren bis zu seinem nervlichen Zusammenbruch ein Freund Goethes, der ihn zunächst förderte, dann aber fallen ließ, als dieser hochsensible Dichterkollege ein Jahr nach Goethes letztem Besuch bei Friederike diese besuchte und schon bald um sie warb, gab sie ihm einen Korb. Und auch später sollte sie sich nie wieder einem Mann zuwenden. Sie blieb unverheiratet bis zu ihrem Tod im Jahre 1813.

Goethe aber ging in „Dichtung und Wahrheit“ hart mit sich ins Gericht. Er habe Friederike wissentlich das Herz gebrochen, schrieb er, das könne er sich nur schwer verzeihen. Aus diesem Gefühl heraus ist vielleicht eine bezeichnende Änderung in der zweiten Fassung von „Willkommen und Abschied“ zu verstehen, die er 1787 bei der Herausgabe seiner gesammelten Gedichte vornahm. Neben einigen Glättungen, die vor allem das Ungestüm der Sturm-und-Drang-Verse betreffen, gibt es einen ganz entschiedenen Perspektivenwechsel. Hatte der frisch Verliebte einst Du gingst, ich stund und sah zur Erden und sah dir nach mit nassem Blick“ geschrieben, so heißt es jetzt: Ich ging, Du standst und sahst zur Erden, und sahst mir nach mit nassem Blick.“ Man darf wohl davon ausgehen, dass die erste Fassung die wahre Gefühlslage Goethes zur Zeit der Abfassung seines Gedichts wiedergibt. Die späte Änderung lässt sich dann wahlweise entweder als Blasiertheit – „ich, der große Goethe, der Weimarer Olympier, werde doch nicht um eine Frau weinen“ – oder als Eingeständnis von Schuld verstehen.

Während ich mir so meine Gedanken über die Vergänglichkeit der Liebe und veränderte Blickwinkel mache, erwacht Sessenheim langsam zum Leben. Menschen gehen einkaufen, die Gaststätte mit dem Goethe-Museum ist immer noch geschlossen und kein Literaturtourist besucht die kleine Gedenkstätte. Nur die Kinder strömen in die „École Frédérique Brion“. Was wissen sie wohl von ihr und dem deutschen Dichter?

St. Foy in Sélestat. (Foto: hah)

St. Foy in Sélestat. (Foto: hah)

Eine Stunde Fahrt nach Süden auf einer Straße mit dem Rhein auf der einen und üppig grünen Wäldern auf der anderen Seite bringt mich nach Sélestat, zu Deutsch Schlettstatt. Der quirlige Marktort mit schönen Gebäuden aus verschiedenen Jahrhunderten vom Spätmittelalter bis zur Neuzeit beherbergt eine Kostbarkeit, die Humanistenbibliothek der einst im ganzen Römischen Reich bekannten Lateinschule Schlettstadts. Doch die Bibliothek, erfahre ich, wird renoviert und erst 2017 wieder eröffnet, und so muss ich auf den Anblick bibliophiler Kostbarkeit wie einem Kapitular Karls des Großen oder Wiegendrucke aus der Frühzeit des Buchdrucks verzichten. Also mache ich einen Rundgang durch die Stadt, trinke am Markt einen Kaffee und werfe einen Blick in die romanische Kirche St. Foy. Die der heiligen Fides – wer immer das war – geweihte Kirche soll, so sagt mir mein bildungssatter Reiseführer, architektonisch an die ebenfalls nach der heiligen Fides benannten Wallfahrtskirche im südfranzösischen Conques erinnern.

Das Wandbild in Sßelestat zeigt fröhliche Elsässer. (Foto: hah)

Das Wandbild in Sélestat zeigt fröhliche Elsässer. (Foto: hah)

Woran der kluge Verfasser das erkennt, sagt er freilich nicht, und ich weiß es auch nicht. Von Conques aber weiß ich etwas. Dort bewahrt man eine wundertätige Reliquie auf, nämlich ein Stück von der Vorhaut Jesu Christi. Das hat man in Sélestat nicht. Dafür aber eine Wandmalerei aus neuerer Zeit, die fröhliche Elsässer beim Weintrinken zeigt. Prost und Tschüüss und Au revoir!

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