Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 9:
In der Königlichen Saline von Arc-et-Senans

Von Hannes Hansen

Arc-et-Senans. Behäbige Mittelgebirge, die Vogesen im Norden, im Süden der Jura, das Landschaftsbild der Franche Comté an den Grenzen zum Elsass und zur Schweiz ist Idylle pur. Zwischen die lichten Laub- und die dunklen Tannenwälder, mit denen eine freundlich nette Natur die Region in einer Vielzahl von Grüntönen gemalt hat, schieben sich Almen und Wiesen, auf denen einfarbig braune Rinder weiden oder im Schatten von Bäumen dösend wiederkäuen. An einsamen Nebenstraßen unterstreichen winzige, farblos staubige Dörfer, vor deren Häusern gewaltige Holzstapel lagern, die scheinbare Zeitlosigkeit. Manche von ihnen wirken in ihrer trostlosen Starre wie Pickel auf einem schönen Gesicht.

In der Franche Comté (Foto: hah)

In der Franche Comté (Foto: hah)

Im Übrigen ist die Idylle trügerisch. Im Laufe der Geschichte nahm sie des Öfteren blutige Züge an, denn durch die Burgundische Pforte, einen flachen Landschaftssattel zwischen Vogesen und Jura, fielen immer wieder fremde Heerscharen auf ihrem Weg ins reiche Burgund und weiter in die Provence oder ins französische Kernland ein. Die Festungsanlagen von Belfort und Besançon oder die turbulente Geschichte von Montbéliard, das einstmals als Mömpelgard eine deutsche Reichsstadt war und mehr als einen Besitzerwechsel erlebt hat, sprechen eine beredte Sprache.

Claude Nicolas Ledoux

Claude-Nicolas Ledoux

Wir – das sind meine Freundin Rotraud, die mich wieder ein paar Tage begleitet, und ich – sind auf schmalen, kurvigen Landstraßen den Wegen der alten Eroberer gefolgt. Am Rande des Dörfchens Arc-et-Senans im Départemant Doubs träumt ein ebenso beeindruckendes wie bedrückendes Bauensemble den gewalttätigen Traum seines Erbauers. Zwischen 1775 und 1779 errichtete Claude-Nicolas Ledoux im Auftrag von Ludwig XVI die Königliche Saline, eine Anlage zur Salzgewinnung. Im gut zwanzig Kilometer entfernten Salins-les-Bains lieferten zwei Quellen stark salzhaltiges Wasser. Seit dem Altertum verdampfte man die Sole in riesigen Salzpfannen und gewann so das „weiße Gold“; Jahrhunderte lang eine Kostbarkeit, mit der die französische Krone und ihre Kaufleute halb Europa belieferten. Diese energieaufwändige Form der Salzgewinnung verschlang ungeheure Mengen von Brennholz, und im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts waren fast alle Wälder rund um Salins-les-Bains verschwunden. Einen Ausweg bot der riesige königliche Forst von Chaux mit den Weilern Arc und Senans. Da sie tiefer lagen als die Quellen von Salins-les-Bains, konnte Ledoux das Gefälle des Geländes benutzen, um die Sole in Röhren aus ineinander gesteckten, ausgehöhlten Baumstämmen in seine neugegründete Saline zu lenken.

Ètienne Louis Boullée: „Kenotaph für Isaac Newton“

Ètienne Louis Boullée: Kenotaph für Isaac Newton (Quelle: Wikipedia)

Nicholas Ledoux war einer der bedeutendsten Vertreter der so genannten Revolutionsarchitektur, die in ihrer utopischen Spielart Entwürfe von Bauten gewaltigen Ausmaßes vorlegte. Geometrische Grundformen wie Kreis, Quadrat, Dreieck, Kugel und Würfel waren die Elemente dieser Architektur. So entwarf Ledoux’ Kollege Boulleé etwa einen Kenotaph, ein Grabdenkmal, für den großen englischen Physiker Isaac Newton in Form einer monumentalen Kugel von über zweihundert Metern Durchmesser, dessen Gewölbe wie bei einem Himmelsglobus der Sternenhimmel zieren sollte. Ein Beispiel für die damals viel diskutierte „architecture parlante“. Die Begeisterung für die „sprechende Architektur“, deren Bestimmung sich aus ihrer Form ablesen ließ, führte dabei zu allerlei abstrusen Ideen. Und während Boullée das Haus für einen Flussinspektor als Röhre plante, durch die der Fluss geleitet wurde, meinte Kollege Lequeu, ein Kuhstall müsse die Form einer riesigen Kuhskulptur haben. Für solche Utopien, nüchternere Zeitgenossen sprechen wohl auch einmal von Spinnereien, fand sich freilich kein Aufraggeber. Die Entwürfe wurde ebenso wenig gebaut wie Ledoux’ „Haus des Gärtners“ in einem idealen Landschaftspark. Die auf einem gewaltigen Sockel ruhende Kugel hätte in der Landschaft wie ein vom Himmel gefallener riesiger Fremdkörper gewirkt.

Ledoux: Haus des Gärtners

Ledoux: Haus des Gärtners (Quelle: Wikipedia)

Die tatsächlich realisierten Bauten von Ledoux und Kollegen fielen dann auch bescheidener, doch immer noch monumental genug aus. Ihr formal ebenfalls stark reduzierter Formenschatz aus stereometrischen Elementen ist an antiken Vorbildern, der Architektur der Renaissance und deutlich an den Bauten Palladios geschult. Ihr strenger Klassizismus beeinflusste dann auch den Berliner Architekten Friedrich Gilly und über ihn seinen bedeutendsten Schüler Schinkel.

Arc-et-Senans: Plan der Saline Royale

Arc-et-Senans: Plan der Saline Royale (Quelle: Wikipedia)

Die Saline Royale von Arc-et-Senans liegt an diesem Maitag bei wunderbar sonnig warmem Wetter im Sonnenglast und brütet vor sich hin. Die wuchtige Architektur ist ganz auf Größe und Machtdemonstration angelegt. Ledoux verstand sich als Aufklärer, aber gewiss nicht als Revolutionär. Dabei war er Anhänger einer strikten hierarchischen Ordnung, die sich in der Anlage der Saline spiegelt. Die halbkreisförmige Anordnung der einzelnen Gebäude ist auf das Haus des Direktors ausgerichtet, das mit seinem Portikus mit gewaltigen, scheinbar aus dem Boden wachsenden dorischen Säulen aus abwechselnd runden und quadratischen Trommeln Macht, Macht, Macht, Kontrolle, Macht ausdrückt. Ein kreisrundes Ochsenauge im Giebel des Portikus symbolisiert das alles überwachendes Auge des Direktors.

Arc-et-Senans: Haus des Direktors

Arc-et-Senans: Haus des Direktors (Quelle: Wikipedia)

Arc-et-Senans: Eingangsgebäude (Foto: hah)

Arc-et-Senans: Eingangsgebäude (Foto: hah)

Wer ein Beispiel für das Wort „dräuen“ sucht, dem sei ein Blick auf diesen Portikus empfohlen. Das Gleiche gilt für das Innere des Hauses. Eine gewaltige Treppe führt in den ersten Stock auf eine Kapelle. Sie diente als Raum der Gemeinde, die ehrfürchtig nach oben blicken musste. Nur Herr Direktor höchstselbst durfte der Messe von der Galerie gegenüber der Kapelle und so auf gleicher Ebene mit Gott und seinen irdischen Helfern beiwohnen. Die Wohnungen der Arbeiter, der Küfer für die Herstellung der Salzfässer und der „Berniers“, der Salzsieder, befanden sich in den Häusern zu beiden Seiten des Eingangsgebäudes. Sie mussten zusammengepfercht leben und sich in so genannten Gemeinschaftsräumen treffen. Ledoux schwärmte für aufklärerische Ideen von einer „natürlichen“, gemeinschaftlichen Lebensweise und gab ihr mit seiner Architektur diktatorisch die Richtung vor. Dass er aus stilistischen Erwägungen nur ganz kleine Fenster vorsah, die weder genügend Licht noch frische Luft einließen, dass er aus gleichen Gründen in den Gebäuden, in denen das Salz in riesigen, mit Holz befeuerten Pfannen gewonnen wurde, keine Schornsteine zuließ, war die andere Seite dieses merkwürdigen Naturliebhabers. Aber vielleicht empfand er es ja als natürlich, dass die Arbeiter unter solchen Bedingungen an Atemwegserkrankungen litten.

Arc-et-Senans: Salzsiederei (Foto: hah)

Arc-et-Senans: Salzsiederei (Foto: hah)

So hinterlässt die Königliche Saline von Arc et Senans, die längst den Betrieb aufgegeben hat und zum Museum geworden ist, einen zwiespältigen Eindruck bei meiner Begleiterin und mir. Rotraud, die für ein Buch über Architekturphantasien, das in ihrem Berliner Verlag erscheinen soll, eifrig photographiert hat, wirkt bedrückt. Trotz der Mittagshitze fröstelt es sie angesichts solch Stein gewordener Macht-demonstration, sagt sie. „Dich nicht?“

Doch, Rotraud, mich auch.

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