Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 8: In Freiburg

Von Hannes Hansen

Freiburg. In Freiburg, also bei Traute, der alten Freundin aus Kiel. Die streiterische, dabei charmante und bei Bedarf liebenswürdige Frau hatte einmal einen kleinen, feinen Verlag, der sich auf feministisch-psychoanalytische Themen spezialisiert hatte. Der „Kore Verlag Traute Hensch“ sorgte, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen, für die verspätete Würdigung der russisch-jüdischen Psychoanalytikerin Sabina Spielrein, die, 1885 geboren, im Jahre 1942 in Rostow am Don Mordbanden der deutschen Wehrmacht zum Opfer fiel. Traute Hensch veröffentlichte ihre wissenschaftlichen Werke und Briefe, zudem auch den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und C.G. Jung, der einen Jahrzehnte lang mit dem Mantel des Schweigens bedeckten Skandal öffentlich machte. C.G. Jung nämlich hatte, was heute zu Recht als schwerer Missbrauch gilt, ein Verhältnis mit seiner Schülerin Sabina Spielrein. Überhaupt nahm er es mit Liebesbeziehungen zu von ihm Abhängigen nicht so genau (siehe auch hier).

Als Jung seine Geliebte verließ und die drohte, die Affäre öffentlich zu machen, beschlossen die beiden Herren, die sich damals noch keine Hahnenkämpfe um den rechten Weg der Psychoanalyse lieferten, die Dame sollte im Interesse des öffentlichen Ansehens der anno Tobak noch heftig umkämpften Seelentechnik gefälligst die Klappe halten, was diese auch schweren Herzens tat und daran fast zerbrach. So viel zur moralischen Integrität der beiden Säulenheiligen der Psychoanalyse, die in krassem Widerspruch zu ihren bahnbrechenden Entdeckungen und zur gar nicht zu überschätzenden Bedeutung für die moderne Psychotherapie steht. Der Mensch – und hier vor allem der männliche Mensch wie Freundin Traute sagen würde – in seinem Widerspruch halt.

Dass der Kore Verlag, trotz eigentlich gesunder Finanzen, schon vor Jahren Insolvenz anmelden musste, liegt schlicht daran, dass ihr Geschäftspartner, die Kieler Verlagsauslieferung, nach waghalsigen, großspurigen Geschäften ebenfalls in eine solche ging. Zwischen zwei- und dreihunderttausend Mark Verlust, das war zuviel für den Kore Verlag.

Mathias Grünewald: Isenheimer Altar

Mathias Grünewald: Isenheimer Altar

Und sonst? Was haben Traute und ich sonst noch in Freiburg gemacht? Nun, an einem Tag fuhren wir ins nahe Elsass, nach Colmar. Ein lausig kalter Tag, wie geschaffen, um ins Museum zu gehen. Das in einem ehemaligen Kloster untergebrachte Unterlinden-Museum mit seinen fast fünfzigtausend Exponaten von der Antike bis zur Gegenwart wurde von dem Schweizer Architektenteam Herzog & de Meuron – ja, das sind die, die die Hamburger Elbphilharmonie entworfen haben, an deren Baudebakel sie keine Schuld tragen – ebenso zurückhalternd und behutsam gegenüber der historischen Substanz wie ausstellungstechnisch hervorragend und in allen Details eine künstlerische Handschrift verratend renoviert.

Mathias Grünewald: Isenheimer Altar (Detail)

Mathias Grünewald: Isenheimer Altar (Detail)

Der besondere und auch besonders herausgestellte Schatz des Unterlinden-Museums ist der Isenheimer Altar des fälschlich Mathias Grünewald genannten Malers Mathis Nithard-Gothard (1475/80 – 1528-31), über dessen Leben man nicht sehr viel weiß. Wir machten den Fehler, den Altar stante pede vor allen anderen Werken aufzusuchen. Wir hätten es besser wissen müssen, schließlich sind Traute und ich schon des Öfteren in die Falle getappt, die der Altar jedem Besucher stellt. Wenn man die Wucht der Bilder, wenn man die gnadenlose Realität der Kreuzigungsszene gesehen hat, sich von der Zartheit anrühren lassen, mit der Jesu Lieblingsjünger Johannes die angesichts des ihrem Sohne Angetanen in Ohnmacht fallende Maria umfängt, wenn man das ganze ergreifende Inventar der biblischen Szenen auf den Seitenflügeln hat auf sich wirken lassen, dann ist es unmöglich, einem anderen Bild, einem anderen Altar und seien sie von so bedeutenden Meistern wie Martin Schongauer gerecht zu werden. Selbst dessen berühmte, anmutige „Madonna im Rosenhaag“ in der nur ein paar Meter entfernten Dominikanerkirche konnte Traute und mich nicht zu mehr als ein paar belanglosen, lobenden Worten hinreißen.

Martin Schongauer: „Maria im Rosenhaag“

Martin Schongauer: „Madonna im Rosenhaag“

Zu einem weiteren kulturellen Großereignis in Freiburg zu gehen musste mich Traute überreden. In der Hochschule für Musik führten vierzehn Studentinnen und Studenten zum 80. Geburtstag des amerikanischen Minimalisten Steve Reich dessen Stück „Drumming“ auf. Eine Stunde Trommeln, Marimba- und Vibraphon und andere Instrumente der Schlagwerk-Familie … schwierig, schwierig für einen wie mich, der nicht gerade als Kenner der Neuen Musik gelten kann. Gut, man konnte hören, dass hier Phasenverschiebungen, Wiederholungen, minimale Tempo- und Strukturveränderungen einem gewissermaßen mathematischen Prinzip folgten, dass hier ein Algorithmus abgearbeitet wurde, dessen Formel ich nicht erkennen konnte. Aber hat mich das jenseits eines gewissen intellektuellen Interesses interessiert? Nein, hat es nicht. Da fanden wir, bei allem Respekt, die gewissermaßen urwüchsige Trommelkunst der jungen Musiker aus Guinea anregender, die als Vorgruppe zu Steve Reichs „Drumming“ gehörig einheizten.

An diesem Abend lernte ich auch Trautes Freunde Jürgen Lodeman, der 1977 mit seinem Roman „Anita Drögemöller“ einen ganz neuen, frechen Ton in die deutsche Literatur brachte, und seine Lebensgefährtin, die Autorin Bille Haag kennen. Einen Tag später waren wir bei den beiden im Freiburger Vauban-Viertel, einer „grünen“ Mustersiedlung zu Besuch. Anlass war neben dem Abendessen die Vorführung des Films, den der Nachfolger Lodemanns als Literaturredakteur des SWF über dessen viele Jahre laufende „Bestenliste“ seinem Vorgänger Reverenz erwies. Mit diesem Gegenstück zu allen Bestsellerlisten, für das über zwanzig angesehene Literaturkritiker ihr Votum abgeben, machte sich Jürgen Lodemann um die deutsche Literatur verdient, wie alle Beteiligten betonten.

Reinhold Schneider (Foto: Eschen / Ullstein)

Reinhold Schneider (Foto: Eschen / Ullstein)

Mit Jürgen Lodemann, Bille Haag und anderen Kulturschaffenden ist Freundin Traute auch in einer Initiative aktiv, die das Wohnhaus von Reinhold Schneider (1905 – 1950) vor dem Zugriff einer Investoren-Clique retten und es zu einem Kulturzentrum machen möchte. Der gläubige Katholik Schneider, der mit der Amtskirche haderte (und die mit ihm), verweigerte sich als Schriftsteller und Mensch den Nazis. Mit „Las Casas vor Karl dem V.“ über den Mönch Bartolomé Las Casas, den „Vater der Indios“, der diese vor dem Zugriff der weißen Eroberer schütze, schuf er 1938 einen Schlüsselroman, den wohl auch die Dümmsten als Abrechnung mit der Judenpolitik der Nazis – lange vor der Ermordung der Juden also – verstanden.

Sein Haus als Kulturzentrum, das stünde der „linksliberalen“ Bischofsstadt Freiburg gut zu Gesicht, finden nicht nur Traute, Bille Haag und Jürgen Lodemann. Das findet auch Paul Meyer, der einst dem Leben als Chef der renommierten Meyer Werft in Papenburg das eines Historikers und Filmemachers vorzog. Zum Abschluss unseres Besuchs bei ihm und seiner englischen Frau Celia – man sieht schon, wir fressen uns überall durch, aber anregend war es allemal –, einer außerordentlich phantasievollen Künstlerin, von deren Werken ich leider kein Bild auftreiben konnte, schenkte er mir die DVDs von zwei seiner Filme: „Konspirantinnen“, ein Film über polnische Zwangsarbeiterinnen im Emsland und deren Überlebensstrategien, und „Muffrika“, das von einem jungen Soldaten erzählt, der kurz vor Kriegsende im April 1945 als selbsternannter Wehrmachtsrichter und -henker durch die Lande zieht.

Und mit diesen Filmen soll es genug sein mit dem Bericht aus Freiburg. Viel zu lang ist er ohnehin geworden.

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