Boualem Sansal stellte seinen Roman „2084 – Das Ende der Welt“
im Literaturhaus vor

Von Jörg Meyer

Kiel. „Der Leser möge sich hüten, diese Geschichte für wahr zu nehmen, sie ist ein Werk reiner Erfindung“, stellt Boualem Sansal, frankophoner algerischer Autor, Essayist und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2011, seinem jüngsten Roman „2084 – Das Ende der Welt“ voran. Ob jene „Vorwarnung“ ein literarisch-satirischer Kniff ist oder nur die Zensoren ruhigstellen soll, ließ Sansal bei der Vorstellung seines Buchs im ausverkauften Literaturhaus bewusst offen. Auch an wen die Provokation der Dystopie im Anschluss an George Orwells „1984“ gerichtet ist.

Ansich scheint der Fall klar: Ein ob seiner islam-kritischen Essays in seiner Heimat nicht wohl gelittener – „verfolgt werde ich allerdings kaum, nur ignoriert“ – Autor überträgt Orwells Dystopie eines totalitären Überwachungsstaats auf heutige Zeiten, wo der Islamismus die Weltherrschaft einer „Diktatur der Religion“ anstrebt. Orwells Protagonist Winston wird zu Ati, der in einem Gottesstaat unter der Herrschaft des zum Propheten verklärten Diktators Abi lebt. Alles freie Denken wurde den Menschen ausgetrieben, sie sollen nur noch blind glauben und gehorchen, Geschichte und der Kalender wurden getilgt, das Ende der Welt und aller Zeiten. Und sogar die Sprache ist zum Instrument totalitärer Machtausübung deformiert. Ati kommen dennoch Zweifel, und er macht sich auf in ein Ghetto letzter Widerständler …

Boualem Sansal (Foto: Roger von Heereman)

Friedenspreisträger und schon lange Religions- und Sprachkritiker: Boualem Sansal (Foto: Roger von Heereman)

Soweit, so ähnlich. Dennoch ist „2084“ kein „1984 2.0“ und auch nicht die blasphemische Dystopie, als die der Roman kurzschlüssig gelobt wird. „Islamisten werden ihn als Utopie ihres Gottesstaats lesen“, weiß Sansal in der hitzigen Diskussion nach der Lesung (deutsche Übersetzung: Nils Aulike) und erklärt sich so, dass die Morddrohungen, die er nach der Veröffentlichung in Frankreich erhielt, nicht aus der arabischen Welt, sondern von europäischen Islamisten kamen. Liegt also Abistan eher im Nordwesten als im Südosten? Und wer wird hier provoziert: die islamische Welt oder Europa, das sich „schleichend vom Islamismus unterwandern lässt“?

„Orwells Roman erklärte mir gut den Wechsel von einem laizistischen Kolonialstaat zu einer kommunistischen Militärdiktatur, von ’Schwarz-’ zu ’Rotfüßlern’, als Algerien 1962 unabhängig wurde“, erinnert sich Sansal. „Aber ’9/11’ und die arabische Revolution der ’Grünfüßler’ erklärte er überhaupt nicht mehr.“ Orwells Dystopie „musste angesichts eines nicht mehr politischen, sondern religiösen Totalitarismus neu erzählt werden“. „Ein Buch, auf das alle warteten, da habe ich es geschrieben“, lächelt Sansal vielsagend.

Entsprechend richtet sich seine Islamismus- und vor allem Sprachkritik eher an Europa, wo im Rahmen des „Kriegs gegen den Terror“ demokratische Rechte abgebaut werden. Um die Freiheit vor ihren Feinden zu retten, gefährde man sie selbst, diagnostiziert Sansal. Und so ist die „Vorwarnung“ wohl auch ganz anders zu lesen, als man zunächst denkt: als ganz aufklärerisch gedachte Warnung vor der selbst gewählten Unmündigkeit der nur vermeintlich noch mündigen Bürger.