Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 10: Durch die Franche Comté und das östliche Burgund nach Tournus
Von Hannes Hansen
Tournus. Der Regendunst hat die Farben ausgezehrt und in das kräftige Grün der Bäume und Büsche am großen Fluss zarte Pastelltöne gemischt. Am gegenüber liegenden Ufer der Saône stakst ein Graureiher langsam durch das Flachwasser, bleibt lauernd stehen und wartet auf Beute. Der große Vogel scheint mir, der ich ebenfalls Hunger habe und zu Abend essen will und zwar jetzt gleich, in seiner gespannten Unbewegtheit eine Lektion in Sachen Geduld erteilen zu wollen.
Ich hocke in meinem Campingbus am Quai Nord von Tournus und starre trübsinnig in den immer stärker werdenden Regen. Il pleure dans mon cɶur / Comme il pleut sur la ville –„Es weint in meinem Herzen / wie es auf die Stadt regnet“, murmle ich vor mich hin, Quelle est cette langueur / Qui penêtre mon cɶur? Und dann denke ich: Was redet mir dieser Paul Verlaine eigentlich ein? Großer Dichter hin, Zauber der Poesie her, in meinem Herzen regnet es jedenfalls nicht, sondern auf meinen Kopf, wenn ich ihn aus der Tür stecke. Und langueur-Wehmut verspüre ich auch nicht, sondern eine Stinkwut und zwar auf mich selbst, weil ich bei meiner Abreise darauf verzichtet habe, Regenkleidung und einen Schirm mitzunehmen. Schließlich fahre ich ins liebliche Frankreich und ins sonnige Spanien. Und vorhin, auf der ganzen Strecke von Arc-et-Senans in der Franche Comté und das östliche Burgund bis hierher, bis in die sechstausend-Einwohner-Stadt Tournus am rechten Ufer der Saône hat ja auch die Sonne vom Himmel geprahlt, auf Berge und Flüsse des Jura geschienen und auf den Wiesen und Weiden der Bresse ein ganz unaufgeregtes Landschaftsbild gemalt, als seien das einundzwanzigste Jahrhundert und das zwanzigste gleich mit weit weg. Da wird es ja wohl auch in Tournus nicht regnen.
Tut es aber und zwar kräftig. Ein wolkenbruchartiger Regen trommelt auf das Dach meines Campingbusses. So geht das anscheinend schon seit Tagen, denn die Saône ist mächtig angeschwollen und über die Ufer getreten. Eine Reihe von Bäumen steht im Wasser, und die Anlegestelle der Frachtkähne ist meterhoch überflutet. Vor Jahren habe ich mich hier einmal nichtsahnend mit meinem Campingbus hingestellt und übernachtet. Ist damals gut gegangen. Heute aber bleibe ich doch besser auf dem Stellplatz, den die Stadtväter von Tournus den Wohnmobilisten am Quai Nord hoch und trocken über der Saône und nur wenige hundert Meter vom Stadtzentrum entfernt zur Verfügung gestellt haben.
Ich bin wieder alleine, Freundin Rotraud ist längst auf dem Weg nach Paris. In der Nationalbibliothek will sie zum Thema Revolutionsarchitektur und Architekturphantasien ein bisschen für ihr Buch recherchieren. Mit einer französischen Freundin, die sie schon lange kennt und die Berlin liebt, hat die immer praktisch denkende Hanseatin für zwei Wochen die Wohnung getauscht. Ob ich nicht nachkommen wolle, hat sie gefragt, Platz genug gebe es. Klingt verlockend, vor allem weil für die nächsten Tage Starkregen und erneut einsetzende Kälte angesagt sind. Da bietet ein Paris-Aufenthalt in einem warmen Zimmer statt Nächten in einem kalten VW-Bus zwischen klammer Bettwäsche doch einige Vorteile, und deshalb habe ich auch „Mal sehen“ gesagt.
Ein Gutes hat solch ein Wolkenbruch, er dauert, anders als ein richtiger Landregen, nicht lange, und so klart es dann auch bald auf. Nur ein paar Schritte sind es zu dem kleinen Restaurant an der Brücke hinüber in die Bresse. Dort werde ich, wie immer, wenn ich gerade einmal wieder in Tournus bin – heute ist es das sechste oder siebte Mal in gut vierzig Jahren, wenn ich mich recht erinnere – Rognons à la dijonnaise essen, „Nieren auf Dijonart“ in einer Senfsauce, und zwar erstens, weil man im Alter seine Gewohnheiten nicht ändern, zweitens weil man, wenn man in Burgund ist, landestypisch essen soll und drittens überhaupt, weil man in Deutschland solch ein einfaches Gericht ja kaum noch auf den Speisekarten findet. Die Glorie der französischen Küche liegt, glaubt man den Autoritäten, nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie bei der ein-, zwei-, drei-Sterne-Cuisine, sondern bei den Bauern- und Kleinbürgerfrauen Frankreichs, die über Jahrhunderte eine Kochkunst entwickelt haben, die aus einfachsten Zutaten wie Innereien und gerade verfügbarem Gemüse wahre kulinarische Wunder hervorbrachte. Eine „arme Küche“, die entstand, als König Heinrich IV. nach Beendigung verheerender Bürgerkriege und totaler Verarmung des Landes als Ziel seiner Politik angab, jeder Franzose solle sein „Huhn im Topf“ haben, was im Französischen wegen des Stabreims noch hübscher klingt: Poule au pot.
Dem guten König Heinrich, wie er in seiner Pyrenäenheimat Niedernavarra genannt wurde, bekam seine Volksnähe, die sich auch darin äußerte, dass er sich unerkannt unter seine Untertanen mischte, um zu erfahren, was selbige so dachten, nicht gut. Am 13. Mai des Jahres 1610 wurde Heinrich, der um des Religionsfriedens in Frankreich willen zum Katholizismus konvertiert war – „Paris ist eine Messe wert“ –, doch gleichzeitig den Protestanten, seinen ehemaligen Glaubensbrüdern, Religionsfreiheit gewährt hatte, auf offener Straße ermordet. Mord aus religiösem Eifertum ist keine Erfindung des Islams, sinniere ich vor mich hin, während ich mich auf meine Rognons freue.
Aber denkste, Nieren führt die „Bar Le Parisien“, wie sich das ehedem einfache Bistro jetzt großspurig nennt, nicht mehr auf der Speisekarte. Dafür empfiehlt mir der freundliche Wirt Poule à la dijonnaise. Das wollte ich ihm aber auch geraten haben, denn ein Huhn aus der Bresse, das mit Mais gefüttert wurde, ist schließlich auch etwas Feines, und so hält sich mein Ärger zunächst in Grenzen, obwohl ich gerade hier und jetzt die Veränderung durchaus nicht schätze. „Früher war alles besser“, sagen alte Leute ja gern. Da brauchte man auch nicht „früher“ zu sagen.
Als ich „Le Parisien“ satt und zufrieden verlasse, sehe ich die Welt wie durch einen rosigen Schleier. Das vorzügliche Bresse-Huhn, dazu eine Karaffe Chablis, als Nachtisch Crème brulée und zum Kaffee ein Marc de Bourgogne – die französische Variante des in Deutschland ungleich bekannteren Grappa – haben mich milde gestimmt. Doch meine gute Laune hält nicht lange vor. Weil es ja nicht mehr regnet und die Temperatur für einen Aufenthalt im Freien gerade noch ausreichend ist, fasse ich den nächsten Programmpunkt eines jeden Tournus-Aufenthalts ins Auge, den Besuch auf der Terrasse des nur wenige Schritte entfernten „Café Moderne“. Auch diese Räuberhöhle kenne ich seit Jahren, fühle mich wohl in den dunklen Räumen mit ihren verblichenen und vom Rauch unzähliger Gauloises und Gitanes gebeizten Tapeten, mit den Fotos längst verschiedener Rugby-Spieler und Radrennfahrer an den Wänden, mit Reklameschildern für Pernod und Byrrh und Plakaten, auf denen schnurrbärtige Männer in Kniehosen und Damen in langen Röcken mit Strohhüten für Peugeot-Räder posieren.
Für Bars und Cafés in Frankreich habe ich mir eine einfache Regel gemacht: Wer ein traditionelles Café, ein altmodisches Bistro sucht, in dem der Patron noch seine Lieferanten persönlich kennt, kann bei einem Café, einer Bar „Moderne“ oder „du Sport“ nichts falsch machen. Die Namen stammen aus den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Sport zu treiben modern wurde. Und so lange sich, so meine Erfahrung, an den Namen nichts ändert, bleibt es auch bei der vertrauten Einrichtung.
So war es einmal. Aber das „Café Moderne“ gibt es nicht mehr, muss ich zu meinem Erschrecken feststellen, sondern statt seiner – Gipfel der Banalität – eine Pizzeria. Immerhin, die Terrasse auf der anderen Straßenseite ist noch an der gewohnten Stelle an der Mauer zum Fluss. Man sitzt unter Platanen und schaut hinüber auf das Grün des Ufers. Ich sitze also und warte, dass ein Kellner kommt und mich nach meinem Begehr fragt.
„Da können Sie lange warten“, sagt ein Mann am Nebentisch, „Selbstbedienung.“
Auch das noch. Aber was soll man machen. Ich überwinde meinen Widerwillen und betrete die Pizzeria. Es sieht schlimmer aus als erwartet. Neonlicht, Fotos von Venedig und Capri an den bonbonfarbenen Wänden, weiße Plastikmöbel, aus dem CD-Player plärrt „Va pensiero“.
„Un ballon“ sage ich zu dem jungen Nordafrikaner hinter der Theke und er antwortet: „Häh“?
„Un rouge“.
Wortlos schenkt er mir einen Rotwein ein.
„Trois euros.“
Ich bezahle, nehme mein Glas und gehe an meinen Platz auf der Terrasse.
Mein Nachbar schaut mich an.
„Und?“
„Schrecklich“.
„N’est-ce pas?“
Versonnen blicken wir in unsere Gläser. Dann sagt mein Nachbar:
„Früher war das mal ein richtig gemütliches Café …“
„Mit Bildern von Rugby-Spielern und Radfahrern“, unterbreche ich ihn.
„Ach, Sie kennen das alte ‚Café Moderne’?“
„Ja, schon seit vierzig Jahren.“
„Oh. Dann haben Sie das Bild von meinem Großvater gesehen. Er war Kapitän der Rugby-Mannschaft von Tournus.“
„Bestimmt“, sage ich, „aber ich weiß jetzt nicht …“
„Natürlich nicht. Aber sind Sie morgen noch da? Dann kann ich es Ihnen zeigen.“
Wir verabreden uns für den nächsten Morgen im Café „Le Charleston“ in der Rue Jean Jaurès. Das sehe noch so aus wie damals, als Charleston der letzte Schrei in den „Dancings“ von Paris und Berlin war. Kann man ja bei solch einem Namen auch erwarten, sage ich, und Lucas, meine neue Bekanntschaft, stimmt mir lachend zu.
Am nächsten Morgen finde ich in der Tat das „Charleston“ fast unverändert vor. Eine Zinkplatte als Theke, geblümte Tapeten, Radfahrerreklame an den Wänden. Sogar der eiserne Kanonenofen ist noch da. Doch für Wärme sorgt an diesem kalten Morgen – während der Nacht habe ich in meinem Bus vor Kälte gebibbert – eine elektrische Heizung, die aber auch so aussieht, als sei sie seit Gründung des „Charleston“ in Betrieb. In einer Ecke sitzen ein paar unrasierte Männer in den typischen blauen Hosen französischer Arbeiter bei einem Glas Rotwein, in der anderen wartet Lucas auf mich.
„Wenn Sie ein Croissant haben wollen“, sagt er, „müssen Sie es sich in der Boulangerie holen. Gleich nebenan.“
Ich denke daran, was mir vor Jahren ein Campingplatzbetreiber im Elsass in makellosem Deutsch erklärt hat: „Ihr Deutschen könnt alles. Nur eines könnt Ihr nicht, gute Croissants machen.“ Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen, und deshalb hole ich mir jetzt in der nur ein paar Schritte entfernten Bäckerei ein echtes französisches Croissant.
Aur revoir et bonne journée“, verabschiedet mich die hübsche junge Verkäuferin. „Ja, schönen Tag auch für Sie“, erwidere ich, verlasse unter wechselseitigen Mercis die Bäckerei und eile durch den kalten Morgen zurück ins warme „Charleston“. Starker schwarzer Kaffee, dazu ein köstliches Croissant, der Tag fängt gut an.
Lucas sieht mir lächelnd zu, dann greift er in eine abgewetzte Ledertasche und holt vorsichtig eine schon leicht verblasste Fotografie hervor, die unter Glas in einem Holzrahmen, von dem die Farbe abblättert, eine Rugby-Mannschaft zeigt, die, in knielangen Hosen und Ringelhemden gewandet, in traditioneller Haltung Stellung bezogen hat: Die erste Reihe kniet, in der zweiten stehen die Männer breitbeinig mit vor der Brust verschränkten Armen und blicken ernst und bedeutsam in die Kamera. „Meister der 3. Division 1951“ lautet die Unterschrift.
Lucas deutet auf einen vierschrötigen Mann ohne Nacken mit einem Schnurrbart Marke Respektbalken, der den Rugby-Ball in den Händen hält: „Mein Großvater. Er war der Kapitän. Erste Reihe-Stürmer. Pilier. Verstehen Sie Pilier?“
Ja, klar, „Pfeiler“ heißt die Position ja auch im Deutschen. Die Spieler, die im „Gedränge“ den „Hakler“ unterstützen. Etwas für Männer ohne Nacken, so breit wie hoch und mit Armen und Beinen wie Baumstämme. Männer wie Lucas’ Großvater. „Fast sechzig Jahre hing das Foto im ‚Café Moderne’“, sagt Lucas. „Dann hat der neue Wirt alle Bilder auf den Müll geworfen. Ich konnte es gerade noch retten. Zum Glück hat mein Großvater das nicht mehr erlebt. Jeden Tag hat er seinen Rouge unter dem Bild getrunken. Kurz vor dem Verkauf des Cafés ist er gestorben.“
Jetzt sei mit dem Verein nicht mehr viel los, erzählt Lucas. Gerade habe man gegen Saint-Priest 93:17 verloren, eine Schande. Und das in der dritten Amateurliga, man denke. „Als ich noch gespielt habe, waren wir in der zweiten Liga, im Mittelfeld“, sagt er.
Langsam habe ich genug von all der Nostalgie, den Erinnerungen an eine Vergangenheit, die eben das ist, nämlich vergangen. Trotzdem ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass auch das Käsefachgeschäft um die Ecke, das ich ebenfalls seit langem kenne, nicht mehr existieren könnte. Doch, doch, versichert mir Lucas, die Fromagerie Giraud gibt es noch. Immer noch im Familienbesitz und immer noch hervorragend geführt.
Lucas begleitet mich in das Geschäft. Bevor ich etwas sagen kann, platzt er mit der Mitteilung heraus, dieser Monsieur aus Allemagne, also der habe hier schon vor vierzig Jahren den Ami de Chambertin gekauft.
Beim Onkel ihres Mannes also, sagt die Frau hinter der Theke. Und woher ich denn den Ami de Chambertin kennte, will sie wissen. Vom Onkel empfohlen, ah ja. Wie mir der Käse denn schmecke.
Vorzüglich, sage ich und brauche kein bisschen zu übertreiben, als ich den mehrmals mit dem Tresterschnaps Marc de Bourgogne gewaschenen Weichkäse einen der besten Käse der Welt nenne. Leider bekommt man ihn in Deutschland nur über einen Spezialversandhandel.
Madame Giraud lächelt. Auch in Frankreich sei er wenig bekannt, sagt sie. Überall kenne man den ähnlichen Époisses, der, wie ich ja sicherlich wisse, ebenfalls aus Burgund stamme, aber den Ami de Chambertin, non, Monsieur, der sei trotz der die Qualität sichernden Herkunftsbezeichnung außerhalb Burgunds unbekannt.
Ehe wir uns nun weiter in die Geheimnisse der Käserei vertiefen, kaufe ich schnell zwei der runden Spanholzschachteln mit meinem Lieblingskäse, verabschiede mich und strebe meinen nächsten Zielen zu, den beiden Schlachtereien in der den Berg zur Abtei St. Philibert herauf führenden Straße, die sich unter verschiedenen Namen durch die gesamte Stadt windet. Eine Stadt mit engen Gassen und Straßen, mit Häusern aus vier Jahrhunderten, an deren Fassaden langsam verblassende Inschriften und Bilder Reklame für längst vergessene Produkte machen.
In der einen Schlachterei, erinnere ich mich, gab es die beste Hasenpastete von Tournus, in der anderen eine vorzügliche Entenrillette. Beides fabrication artisanale, hausgemacht in traditioneller handwerklicher Herstellung, bien sûr.
Und wieder mein Erschrecken über die Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt. Die Hasenpasteten-Boucherie et Charcuterie, die gibt es noch und preist wie eh und je ihre Spezialität an, hinter den Fenstern der Rillette-Schlachterei aber hängen weiße Papierbahnen und ein handgeschriebener Zettel verkündet: À louer, zu vermieten.
„Schade“, sage ich zu Lucas, der mir bei meinem Spaziergang durch die Stadt gefolgt ist, und er nickt. Aber die Rillette in der „Boucherie La Tournusienne“ sei auch gut. Also folge ich seinem Rat, betrete die Schlachterei und bin fast erschlagen von der Auswahl an harten Würsten, an Mettwürsten aus Schweine-, Rinder-, Lamm- und Wildschweinfleisch, vor allem aber von dem Angebot an hausgemachten Terrines, Enten-, Hasen-, Hirsch, Gänse-, Schweine-, Rinder-, Wildschweinpasteten, alles in Gläsern oder großen Konservendosen. Ich komme mir beinahe so vor wie vor Jahren einmal in London bei „Foyles“, dem größten Buchladen der Welt, der mit fünfstöckigen Gebäuden ein ganzes Straßenviertel einnimmt. Über drei Stunden irrte ich durch die verschiedenen Abteilungen, unschlüssig, wofür ich denn nun mein Gled ausgeben sollte. Am Ende verließ ich, völlig erschöpft, Foyles, ohne ein einziges Buch gekauft zu haben.
Ganz so schlimm geht es mir in der Schlacherei La Tournusienne nicht. Ich zögere nicht lange, kaufe je zwei Gläser Hasenpastete und Entenrlllette und gehe. Ein Besuch steht noch auf dem Programm, und bei dem kann ich gar nicht enttäuscht werden. Die dem heiligen Philibert geweihte Abteikirche habe ich in einem früheren Buch („Auf der Suche nach Frankreich – Eine Liebeserklärung“, Verlag Ludwig) bereits ausgiebig gewürdigt, deshalb heute nur so viel: St. Philibert aus dem elften und zwölften Jahrhundert ist eine der schönsten und beeindruckendsten romanischen Kirchen Frankreichs. Sein Inneres mit den aus grob behauenem graurosa Kalkstein aufgemauerten Säulen, die wie urweltliche Baumstämme aus dem Boden ragen, und dem eigentümlichen Quertonnen-Gewölbe mag nicht die Eleganz gotischer Kathedralen haben, aber seine ernste Wucht und die Harmonie seiner Teile sind außergewöhnlich. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, ob seine Baumeister, die vielleicht aus der Lombardei kamen, sich das Wort des Kirchenvaters Augustinus – „Du hast alles geordnet nach Maß und Zahl“ – als Vorbild für die Maße in der Höhe und Breite, Verhältnis der Seiten- zum Mittelschiff, Durchmesser und Abstand der Säulen, zum Vorbild genommen haben. Für spätere Zeiten, sind sich die meisten Kunsthistoriker einig, darf man das wohl annehmen, aber für das elfte Jahrhundert? Lucas, der sich schweigend meine Erklärungen in holprigem Französisch angehört hat, will von solchen philosophisch-religiösen Überlegungen nichts wissen. Er ist Atheist. Und außerdem: „Die Gelehrten können uns viel erzählen. Beweisen lässt sich das nicht.“ Er halte sich lieber an Fakten.
Mittlerweile ist es Mittag geworden, und ein eisiger Wind fegt durch die Straßen. Die Temperatur ist auf gerade einmal neun Grad geklettert und so beschließe ich, Rotrauds Einladung anzunehmen und den Nachmittagszug nach Paris zu nehmen. Das Problem, wohin ich meinen Campingbus für ein paar Tage abstellen kann, löst sich schnell. In Lucas’ Garage ist Platz. Er hat gerade sein Auto verkauft und wartet auf die Lieferung des neuen. Danke also, Lucas, merci, au revoir et à bientôt. Bis bald.
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