Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 15: Durchs Brionnais
Von Hannes Hansen
Chassenard. Wenige Kilometer hinter Tournus tauche ich in eine andere Welt ein, die von der Hektik der Moderne nichts zu wissen scheint, und bin sofort wieder im tiefsten ländlichen Frankreich, in einer seiner klassischen Landschaften, dem hügeligen Burgund der Wiesen und Weiden, auf denen cremefarbene Charollais-Rinder unter einzelnen Baumgruppen Schutz vor der Sonne suchen. Mich würde es, phantasiere ich vor mich hin, nicht wundern, wenn aus dem Vierflügelbau des Chateau Ozenay, eines imposanten, breit hingelagerten Gutshofs aus dem vierzehnten bis siebzehnten Jahrhundert, plötzlich Porthos, Athos und Aramis geschritten kämen, um ihren Freund d’Artagnan zu begrüßen, der hoch zu Pferd von Cluny herübergekommen ist, um sich ihnen auf der Suche nach neuen Abenteuern anzuschließen.
Aber es sind nicht Dumas’ drei Musketiere, die aus der Einfahrt des Chateaus herauskommen, sondern ein Angestellter des Guts, der die breiten Torflügel öffnet, und statt eines vom Pferde springenden jugendlichen d’Artagnan steigt ein Mann im dunklen Anzug steifbeinig aus einer schweren Limousine, übergibt dem Angestellten die Schlüssel des Wagens und verschwindet in einem Seiteneingang. Vollends in der Gegenwart bin ich, als mich ein Hupen von der Straße verscheucht, auf der ich auf und ab gehe, um den richtigen Standpunkt für ein Foto des Chateaus zu finden.
Im tiefsten Mittelalter dagegen fühle ich mich in der kleinen Kirche auf der anderen Straßenseite. Nur wenig Licht fällt durch die winzigen Fenster in den Innenraum, das Kreuzgratgewölbe der Decke verdämmert im Dunkel.
Die Kirche von Ozenay ist die erste auf meiner Fahrt durch eine Landschaft, die mit einer geradezu überwältigenden Anzahl romanischer Kirchen lockt. Da ist Saint-Martin im nahen Chapaize, da sind eine Reihe anderer Kirchen auf meinem Weg ins Brionnay, dem südlichen Zipfel Burgunds abseits der großen Verkehrswege. Und da ist eine ausgesprochene architektonische Kostbarkeit, die ehemalige Klosterkirche Notre Dame in Paray-le-Monial, die als „Taschenausgabe“ der Klosterkirche von Cluny gilt und den gleichen Bauherrn hat, den Abt Hugo von Cluny. Kurz vor dem Jahr 1100 ließ der einflussreiche Kirchenfürst seine Abteikirche mit den Riesenausmaßen von fast zweihundert Metern Länge und dreißig Metern Höhe des Mittelschiffs im nahen Paeay-le-Monial ins Kleine übersetzen. Von der vor dem Bau von St. Peter in Rom größten Kirche der Christenheit ist nur noch das südliche Querschiff erhalten. Der größte Teil fiel während der Französischen Revolution der Wut der Revolutionäre zum Opfer. Einer Wut, die sich auf einfache Priester ebenso wie auf in Saus und Braus lebende Bischöfe und Prälaten mit ihren Mätressen richtete, auf hochherrschaftliche Äbte wie bettelarme Mönche. In den Augen der Revolutionäre von 1789 waren sie alle Angehörige einer Institution, die das Volk ausbeutete. Dass die Zerstörung der Klosterkirche von Cluny – bereits der dritten an dieser Stelle – auch die Vernichtung eines Teils des kulturellen und geschichtlichen Erbes Frankreichs bedeutete, kümmerte die Aufständischen in ihrer Wut nicht. Und so ist, wer sich ein Bild von der Mutterkirche des Cluniazenserordens machen will, auf Notre Dame in Paray-le-Monial angewiesen.
Hier startet meine Fahrt zu den Kirchen des Brionnay. In Anzy-le-Duc liegt ganz still in der hohen Mittagssonne, unter der das gesamte Dorf zu schlafen scheint, die ehemalige Priorats- und heutige Gemeindekirche, die – sicher ist sicher – gleich dreifach geweiht ist, nämlich der heiligen Dreifaltigkeit, dem heiligen Kreuz und der Muttergottes. Doch dieser multiplen Würde macht die aus der zweiten Hälfte des elften und dem frühen zwölften Jahrhundert stammende Kirche alle Ehre. Der basilikale Aufriss des dreischiffigen Langhauses, das ausladende Querschiff, der Staffelchor mit fünf Apsiden, das Kreuzgradgewölbe des Mittelschiffs und der niedrigeren Seitenschiffe und der Vierungsturm, das ist alles state of the art der Romanik seiner Zeit, wenn auch in höchster Qualität für so eine kleine Kirche.
Es lohnt sich, das schöne Portal genauer zu betrachten, auch wenn die Gesichter der vierundzwanzig „Alten“ fehlen, die, in einem Bogenlauf des Tympanons sitzend, wie es in der Apokalypse der Bibel geschildert wird, zu Ehren Christi musizieren.
„Die Dorfbewohner haben die Revolutionäre vertrieben, bevor sie noch mehr zerstören konnten“, sagt der Mann, der sich zu mir gesellt hat und sich als Mitglied des Freundeskreises der Kirche vorstellt. „Le Seigneur blieb uns erhalten“, fährt er ehrerbietig fort. Er deutet auf Christus, der in einem von Engeln gehaltenen Mandorla, einem mandelförmigen Heiligenschein, thront. Er ist hier noch nicht, wie in späterer, gotischer Zeit der Geschundene, der Gekreuzigte, der an das Mitleid der Gläubigen appelliert, sondern ganz Le Seigneur, der „Herr“, der Herrscher über die Gläubigen, die ihm und der Kirche, seinem Stellvertreter auf Erden, bedingungslosen Gehorsam schulden. Keine Kirche der Barmherzigkeit, des Mitleids mit den Armen symbolisiert dieser Christus, sondern eine Ecclesia triumphans et militans, eine triumphierende und kämpferische Kirche.
Doch mein neuer Bekannter, der sich jetzt als Jean Luc vorstellt, will von solchen Überlegungen nichts wissen. Er sieht mich misstrauisch an. Ob ich Atheist sei, will er wissen.
„Schlimmer noch, Protestant“, sage ich lächelnd. Das stimmt zwar nicht, weil ich schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten bin, aber ich möchte ihn provozieren. Nun muss Jean Luc auch lachen. „Ach, heute ist das alles so lange her, heute haben wir eine ganz andere Kirche. Denken Sie nur an unseren Papst, der ist mit den Armen.“
„Ja“, sage ich, „er hat die Kirche mit einem Ruck aus der Antike ins Mittelalter geschubst.“
Jean Luc erwidert etwas auf meine Invektive, das ich nicht verstehe, mir aber mit dem schönen deutschen Ausdruck „Gut Ding will Weile haben“ übersetze, und deshalb sage ich versöhnlich Bien sur und folge Jean Luc ins Innere der Kirche und staune. Mit großer Geste weist mein neuer Bekannter auf die Reihe der Kapitelle auf den Halbsäulen vor den Mittelschiffspfeilern, als sei er selbst ihr Schöpfer: Voilà. Sie sind nicht nur sehr gut erhalten, sie sind vor allem von erstaunlicher Qualität für so eine kleine Prioratskirche in der tiefsten Provinz. Möglicherweise waren ihre Schöpfer die gleichen Steinmetze, die auch die weltberühmten Kapitelle von Cluny schufen, die der Zerstörungswut entgingen, meint Jean Luc. Ich schweige, wie ich hoffe vielsagend, zu seiner lokalpatriotischen Anwandlung.
Dies Kapitelle erzählen Geschichten, nur wüsste man gern welche. Nicht in allen Fällen hilft die Kenntnis der Ikonographie, der Bedeutungslehre von Bildern, Gestalten und Symbolen weiter. Da hockt ein Mann auf einem von weiteren Tieren umgebenen Löwen und reißt ihm das Maul auf. Nun steht der Löwe in der christlichen Ikonographie einerseits für Jesus Christus, weil er, so ist es im „Physiologos“, einem mittelalterlichen Tierbuch, zu lesen, tot geboren und erst durch das Gebrüll der Mutter zum Leben erweckt wird, also wie Christus von den Toten aufersteht. Aber das passt hier nicht. Andererseits jedoch symbolisiert er – welch seltsame Parallelität – die Sünde, ja den Teufel.
Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Ganz recht, meint Jean Luc, der Christ tötet die Sünde in sich, das ist die Botschaft des Kapitells. Und dass auf dem nächsten ein Löwe über einer Menschengestalt kauert, ist folglich die Umkehrung: Hüte dich, die Sünde lauert überall und droht dich zu verschlingen, mahnt es. So weit so gut. Aber was kann der Kampf der beiden Männer, die sich gegenseitig am Bart zerren, bedeuten? Und was wollen die Tiermasken mit den herausgestreckten Zungen an den Ecken des gleichen Kapitells uns sagen? Ich weiß es nicht und Jean Luc auch nicht. Und so verlassen wir nur halb zufrieden die Kirche von Anzy-le-Duc.
Nach einer kleinen Rundfahrt zu weiteren Kirchen im Brionnais bin ich erschöpft und will von religiöser Architektur erst einmal nichts mehr wissen. Deshalb fahre ich an eine abgelegene Stelle am Kanal Digoin à Roanne, einem Seitenkanal der Loire, des vielleicht letzten großen in seiner Ursprünglichkeit weitgehend erhaltenen Flusses Westeuropas. Der schnurgerade Kanal dient heute wohl ganz überwiegend den Touristenbooten, für die Berufschifffahrt ist er zu schmal. An einer Brücke nahe dem Dörfchen Chassenard hat das Rote Kreuz eine Anlegestelle mit Toilette und Waschgelegenheit eingerichtet.
Der idyllische Ort kommt mir gerade recht. Ich sitze in der Abendsonne und lese. Am gegenüber liegenden Ufer macht eine Nachtigall mit artistischem Koloraturgesang einer Callas seligen Angedenkens Konkurrenz. Ihr antwortet in meinem Rücken eine ganze Schar von plebejischen Zikaden, die mit nervenaufreibender Gereiztheit, großer Lautstärke und unendlicher Geduld die Melodien der avifaunischen Primadonna zu zersägen bemüht sind. Mit Erfolg, muss ich leider sagen. Als über der Theaterszene ein buttergelber Vollmond aufgeht, schweigt die Sängerin ob der Missachtung ihrer Kunst beleidigt, und die entomologischen Plebejer haben das Feld für sich und legen jetzt erst richtig los.
Am nächsten Morgen werde ich in aller Frühe vom Krähen des Hahnes auf dem Bauernhof am anderen Ufer wach. Enten und Gänse tun das, was Enten und Gänse nun mal tun, wenn sie sich gestört fühlen, sie quaken und schnattern, dass es nur so seine Art hat. Ein paar Augenblicke später kommt ein Mann aus dem Haus aus schönem Bruchsteinmauerwerk und wirft den Tieren Futter hin. Ein kleiner Junge folgt ihm und wenig später erscheinen die beiden bei mir.
„Bon Jour“, begrüßt mich der vierschrötige Mann mit den tiefen Lachfalten im Gesicht und den schelmischen, blitzeblauen kleinen Äuglein. Ça va?
Ja, es geht mir gut, sage ich.
„En vacances?“, will der Mann weiter wissen.
Ja, ich bin auf Urlaub, bestätige ich, und die Fragerei geht weiter. Von wo? Aus Deutschland, so so. Er sei ja nie von seinem Hof weggekommen, die Tiere, vous savez,, aber seine Tochter, die habe ein Jahr als au pair in Deutschland gearbeitet, in Hambourg. Dort habe es ihr gut gefallen, die Familie sei sehr nett gewesen und habe sie sogar mit in den Urlaub genommen.
Der kleine Junge, der sich das gesamte Gespräch über hinter dem Rücken des Mannes versteckt gehalten hat, kommt nun hervor und sieht mich aus großen Augen neugierig an. „Das ist Lucien, mein Enkel“, sagt der Mann. „Er möchte einen Blick in ihren Bus werfen. Kann er das?“
Natürlich darf Lucien das. Ich zeige ihm den winzigen Küchenblock mit dem Abwaschbecken, fahre den Hubtisch, der nachts eine Matratze trägt und zum Teil des Betts wird, herunter und wieder hoch und erkläre ihm den Drehmechanismus des Vordersitzes.
Nachdem Lucien alles ausgiebig bestaunt hat, verabschieden sich Großvater und Enkel und ich kann den Rest des Tages faulenzen. Abends kommt es wie gehabt zum Wettstreit von Nachtigall und Zikaden und wieder siegen die Banausen über die Künstlerin.
1. Juli 2016 um 18:02
Man bekommt wirklich große Lust, dorthin zu weisen, leider kann ich viele der Fotos nicht ansehen anklicken hilft nicht, schade.
Glückwunsch an Hannes für diese lebendigen Schilderungen. Vielleicht wird das ein Buch?
7. Juli 2016 um 20:10
Danke, Okku, für die wie immer freundlichen Worte.
Dass Du die Fotos nicht ansehen kannst, tut mir leid. Einfach anklicken geht bei mir.
Bis bald mal wieder und Danke!
Hannes