Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 17:
In die Camargue und weiter nach Sète
Von Hannes Hansen
Sète. Schon wieder Regen und Kälte. Bloß weg, nach Süden, nach Süden, in die Provence, das Land des Weins, der Oliven, des Lavendels. Zunächst aber fahre ich einkaufen ins nur wenige Kilometer entfernte Annolay im Département Rhône Alpes. Brot, Käse, Mineralwasser gibt es in einem kleinen Geschäft am riesigen Marktplatz. Weil es für einen Moment aufgehört hat zu regnen, vertrete ich mir ein wenig die Beine und bummle durch die munter bergauf bergab sich windenden Gassen. An einem offensichtlich dem Abbruch entgegen dämmernden Haus entdecke ich die Inschrift Comité de la Défense contre l’Alcolisme. So löblich die Absichten dieses Komitees für den Kampf gegen den Alkoholismus auch sein mögen, so recht mag ich an dessen Erfolg nicht glauben, als ich an der schief in den Angeln hängenden Tür des Hauses lese: Danger. Défense de l’Entrée – „Gefahr. Betreten verboten“. Und dass auf beiden Seiten des Hauses auch noch je eine Bar mit vermutlich alkoholischen Genüssen lockt, macht die Sache erst recht nicht besser.
Weiter also. Nach wenigen Kilometer kommt die Sonne hervor, gerade in dem Augenblick, als in einer Spitzkehre viele Meter unter mir die Rhône aufleuchtet. Ich werde ihr bis zu ihrer Mündung folgen und mich die ganze Zeit fragen, warum wir auf Deutsch die Rhône sagen, während sie auf Französisch le Rhône heißt. Aber wir sagen ja auch die Tour de France, statt der Tour. Vor Jahren fragte ich einmal bei der ARD nach den Gründen dafür und merkte auch noch gleich an, dass der Tennisspieler Andy Murray nicht Mörri sondern Marri ausgesprochen gehört, jedenfalls in Großbritannien und Andy ist schließlich Brite. Sagt ja auch keiner Mörkel zu unserer Bundes-Angie. Natürlich bekam ich von der ARD keine Antwort. Man war wohl zu faul zum Nachdenken und tat mich als Querulanten, Erbsenzähler und Korinthenkacker ab.
Ich habe viel gesehen in den letzten drei Wochen und muss die Eindrücke erst einmal verkraften und ordnen. Auf Landstraßen – die Autobahn vermeide ich weiterhin – fahre ich, begleitet von den Gipfeln der Seealpen auf der anderen Seite der Rhône, der Sonne entgegen, immer weiter nach Süden. Heute reizen mich weder das römische Amphitheater von Orange noch die prachtvolle Burgruine von Les Baux, auch nicht der Papstpalast in Avignon, nicht das Tarascon von Alphonse Daudets Möchtegern-Nimrod Tartarin, nicht einmal das Arles van Goghs. Alles Orte, die ein mehr als flüchtiges Verweilen verdienen. Ich aber will weiter, will in die Camargue zu den schwarzen Stieren, den weißen Pferden und den Gardians, den französischen Cowboys. In das Land, von dem der französische Schriftsteller Henry de Montherlant in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts sagte: „Die Camargue ist eine symbolische Region. Sie muss ein Land der Natur, der Poesie und der Mythen bleiben, ein Rückzugsort für die Seele.“
Langsam ändert sich die Landschaft. Nahe an die Straße heran rücken die bizarren Felsformationen der Alpilles, der „kleinen Alpen“. Auf den Feldern steht der Lavendel, das blaue Gold der Provence, in voller Blüte. Olivenhaine, Weinbau und Kirschbaumplantagen wechseln ab mit mittelmeerischer Garrigue, einer kargen Landschaft, die sich mit stacheligen Büschen, Sträuchen und Kräutern gegen die Überweidung durch Schafe und Ziegen wehrt. Am Straßenrand verkaufen Landwirte ihre Produkte, Kirschen und Erdbeeren, Oliven, Wein, Schafskäse, Knoblauch, Öl. Als ich aussteige, um mir ein paar Erdbeeren zu kaufen, sticht mir der strenge Geruch von Wermut in die Nase. Neben Thymian und Rosmarin, Salbei und Seidelbast, neben dem Blau des Lavendels und den weißen und violetten Blüten der verschiedenen Zistrosenarten, aus deren Mitte sonnengelb die Staubblätter leuchten, gehört er zu den Charakterpflanzen der Garrigue.
Schon bald machen Obstplantagen und Weinbau Platz für die Deltalandschaft der Camargue, in der Flüsse, Kanäle, Salz- und Süßwasserseen mit Salzsteppen und -gärten abwechseln, mit sumpfigen Wiesen, auf denen meterhoch das Schilfrohr wächst und auf denen die halbwilden Stiere, die vor allem für die südfranzösische, unblutige Variante des Stierkampfs gezüchtet werden, weiden. Ihnen galt die ganze Liebe Henry de Montherlants, für den der Heroismus des Kriegs und des Stierkampfs prägende Themen seiner frühen Jahre als Schriftsteller waren. Ein Autor, der für seine ebenmäßige, klassische Sprache in moderner Ausprägung als Vorbild für die Verteidiger der Reinheit der französischen Sprache gilt, ein Mann, der, was Haltung und sprachliche Zucht angeht, als französischer Gegenpart zu Ernst Jünger gelten kann.
Den Stieren also, vor allem aber denen, die mit ihnen kämpften, schenkte er seine Zuneigung und Bewunderung, den Toreros, den „Bestiaires“, die den Titel abgaben für seinen 1926 erschienenen Roman, der auf Deutsch „Tiermenschen“ heißt. An den ebenso hochsensiblen wie hochfahrenden Adligen Montherlant werde ich erinnert, als ich an einem Weidezaun lehne und die satt und zufrieden ruhenden Tiere, die eine geradezu mythische Kraft und Versammeltheit ausstrahlen, betrachte. Eine junge Frau, die mich aus meinem Campingbus steigen sah, spricht mich auf Deutsch an.
„Sind sie nicht wunderschön?“ sagt sie mit strahlenden Augen. Sie stellt sich als Eva vor und erzählt, dass sie eigens wegen der Stiere und des Stierkampfes in die Camargue gekommen sei. Sie ist Romanistin und schreibt ihre Doktorarbeit über das Frühwerk Montherlants.
„Und seine Arroganz gegenüber Frauen stört sie nicht?“, sage ich. „Dass er allen Ernstes behauptet, für Frauen sei die Liebe das Einzige, was im Leben zählt, für Männer dagegen eine unter vielen Interessen.“
Doch, sagt Eva, das störe sie schon. Und dann sagt sie:
„Das mit der Liebe ist ja noch harmlos. Wissen Sie, was er in „Die Aussätzigen“ geschrieben hat?“
Nein, weiß ich nicht.
Eva zitiert aus dem Kopf, erst auf Französisch, dann auf Deutsch:
„Man bezahlt die Frauen, damit sie kommen, und man bezahlt sie, damit sie verschwinden; das ist ihr Schicksal.“
„Auwai“, sage ich, und Eva lacht. Gerade um solche Fragen, um Montherlants Frauenbild und seine erzählerischen Komplikationen gehe es in ihrer Doktorarbeit, einer Arbeit im Kreuzungsbereich von Literaturwissenschaft und Gender Studies. Um die Frage, wie jemand ein großer Schriftsteller und zugleich ein solch verbohrter Macho sein könne. Jedenfalls sei der Romanzyklus „Erbarmen mit den Frauen“ sprachlich vollendet.
Ich verabschiede mich von Eva und fahre weiter durch die Wasser- und Sumpflandschaft der Camargue, vorbei an den Rieselfeldern, auf denen das kostbare Meersalz gewonnen wird, an den langbeinigen Flamingos, die mit graziös gebeugtem Hals Plankton aus dem Salzwasser filtern, vorbei an Stelzenläufern, Säbelschnäblern und anderen Wasservögeln, einem Paradies für Ornithologen, die scharenweise am Straßenrand stehen und eifrig die Objekte ihrer Begierde fotografieren.
Am nächsten Tag fahre ich weiter nach Westen. Außerhalb des Nationalparks, zu dem die französische Regierung einen Teil der Camargue erklärt hat, schieben sich Hafenanlagen, Ölspeicher, Sandberge, Fabriken und oft abschreckend hässliche Siedlungen und Touristenburgen mitten im Nirgendwo zwischen die Lagunen, Kanäle, Weiden und schmalen Landzungen und verschandeln die Dörfer und Städtchen mit ihren niedrigen crèmefarbenen Häusern und den ockerfarbenen „Mönch und Nonne“-Ziegeldächern, den staubigen Allen, in denen Platanen vor der Hitze des Mittags schützen. Die Vögel stört das alles nicht. Die Flamingos heben nicht einmal den Kopf aus dem Wasser, wenn ein voll beladener PKW nur ein paar Meter von ihnen entfernt vorbei donnert. Nur als ich aussteige, um sie zu fotografieren, gehen sie indigniert ein paar Schritte zur Seite, ganz Hautevolee und gar nicht zu vergleichen mit den bäurischen Enten, die sich krakeelend davon machen, oder dem heimlichen Verschwinden von Säbelschnäbler und Co.
So geht es die Küste entlang bis nach Sète, dem zweitgrößten Mittelmeerhafen Frankreichs und einem seiner größten Fischereihäfen. Ich will eigentlich gleich weiterfahren, bleibe dann aber doch ein paar Tage auf einem Campingplatz am Meer im nahen Frontignon. Dort teffe ich auf Thomas, einen Schwaben aus Stuttgart, der nach einem schweren Unfall auf seine Pensionierung als Lehrer wartet. Mit ihm besuche ich das „Espace Georges Brassens“, einem wunderschönen Bau der klassischen Moderne, in dem das Lebenswerk des großen Chansonsängers und – neben dem Dichter Paul Valéry – bekanntesten Sohns von Sète gewürdigt und liebevoll dokumentiert wird. Dort hat der Mann, der als Zwangsarbeiter im zweiten Weltkrieg aus dem brandenburgischen Basdorf floh, sein Grab. Neben ihm liegt seine Lebensgefährtin, eine Deutsche, die der ganz und gar vorurteilsfreie Pazifist und Anarchist liebevoll „Püppchen“ nannte. Dass auf dem Grabstein daraus „Püpchen“ mit nur einem „p“ und langem „ü“ wurde, amüsiert nicht nur Thomas und mich, sondern auch die Franzosen, denen der sprachgewandte Thomas die Bedeutung der verunglückten Schreibweise erklärt. Dass es jetzt in Basdorf ein jährliches Chanson-Festival zu Ehren Georges Brassens’ und unter seinem Namen gibt, interessiert hier nicht weiter. Warum sollte es auch, wenn man in Brandenburg mit der Wurst nach dem Schinken schmeißt.
Am nächsten Tag fahren wir wieder nach Sète, einer Stadt, die eine Vielzahl von Kanälen durchzieht, an denen Schiffe, Boote und Yachten festmachen und die Fischdampfer ihre Fracht löschen. Am Canal Royal, dem alten „königlichen“ Kanal, liegen die Restaurants, die für ihre Fischgerichte und Meeresfrüchte in ganz Frankreich bekannt sind. Ganz am Ende, dort wo die Straße und der Kanal übergehen in den Fischereihafen und schon weit weniger königlich sind, liegt unter einem Blechdach und hinter Blaureben- und Weinranken mein Lieblingsrestaurant. Das hatte mir vor Jahren eine Mitarbeiterin des Tourismusbüros empfohlen.
„Aber, Monsieur, Sie werden verstehen, dass ich keine Empfehlung aussprechen darf. Das würde die Konkurrenz benachteiligen und mir Ärger bereiten.“
Schade, dachte ich und sagte es auch. Doch dann hatte ich einen Einfall, wie ich doch noch zu einem erstklassigen Tipp kommen könnte.
„Aber Madame“, sagte ich, „Sie dürfen mir doch sicher verraten, wohin sie mit Ihrer Familie oder mit Freunden speisen gehen.“
Madame lachte, sagte ohne weitere Umschweife: „Ja, das kann ich“ und empfahl mir das letzte Restaurnt am hintersten Ende des Canal Royal, das „Oh Gobie“, was immer auch dieser Name bedeuten mag.
Auf Dekor legt man dort keinen Wert, der Innenraum ist eine dunkle Höhle, von den Tischen und Stühlen auf der Terrasse blättert die Farbe, es fehlt auch mal ein Teil, aber das Restaurant ist immer rappelvoll. Wer einmal die „Bourride“, die Fischsuppe mit Miesmuscheln und Tintenfischen oder die „Kalamari-Rouille“ – Tintenfische in einer Knoblauchsauce – gegessen hat, wer die Wellhornschnecken, die hier bulots heißen, die Mies- und Herzmuscheln probiert oder eine gebratene Dorade genossen hat, weiß warum. Dann fühlt man sich comme Dieu en France – wie Gott in Frankreich. Und damit wollen wir es für heute bewenden lassen.
9. Juli 2016 um 15:16
Ich freu mich schon auf den nächsten Bericht
13. Juli 2016 um 16:43
Lieber Hannes,
ich freu mich schon auf das buch, das du daraus machst. Es ist wunderbar, wie du schreibst. Hast du inzwischen antworten auf die genusanpassung bei den entlehnten /tour/ und /Rhône/ bekommen?
Weißt du, dass in meinem Allemanischen dies anders gelöst ist?
Da wird aus /le beurre/ ‚der butter‘! Schön gell ?
Ich bin übrigens ab samstag für eine woche in Ferrara mit Moni! Werde keinen blog schreiben, dir aber gerne davon erzählen, wenn du wieder zurück bist, im oktober?
Besos y un fuerte abrazo Monika