Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 19: In Roncesvalles und Burguete

Von Hannes Hansen

Burguete. In seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ schreibt Karl Marx, Geschichte ereigne sich „das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“ Wie wahr, und dieser wie in Stein gemeißelte Satz gilt mutatis mutandis auch für die beiden nur wenige Kilometer voneinander entfernten Orte Roncesvalles und Burguete. Ist die große Tragödie die des Markgrafen Roland, dessen Tod am Pyrenäenpass von Roncesvalles im Jahre 778 im Kampf gegen die islamischen Mauren zu den Gründungsmythen Frankreichs wenn nicht des gesamten christlichen Abendlandes gehört, so muss man den Selbstmord Hemingways, der als junger Mann in Burguete zuerst glücklich, dann weniger glücklich war, wenn schon nicht als Farce, dann zumindest als klägliches Ende betrachten.

... in Burguete (Foto: hah)

Enge Straßen und Geschichten in Burguete (Foto: hah)

Roncesvalles also. Hier, so schildert es das altfranzösische Heldenepos „Chanson de Roland“, besiegt Markgraf Roland, Karls des Großen Paladin, mit zwölf weiteren Recken ein ganzes Heer des als hinterhältig, böswillig und eidbrüchig geschilderten Maurenfürsten Marsilie, der sich im nordspanischen Zaragoza festgesetzt hat. (Mauren nannte und nennt man noch heute die islamischen Eroberer Spaniens, die sich schon kurze Zeit nach ihrer Landung in Gibraltar im Jahre 711 in fast ganz Spanien untertänig gemacht hatten.)

Auf die Schilderung von Einzelheiten wollen wir verzichten, aber erwähnt werden muss, dass besagter Roland, der die Nachhut des Heers Karls des Großen nach dessen Kriegszug im Maurenland befehligt, im Besitz des Horns Olifant, einer gewaltigen Tröte, ist. Mit dem seinen Herrn Karl und dessen Hauptstreitmacht zu Hilfe zu rufen, wäre Roland ein Leichtes. Wozu ihm auch sein Kumpel Olivier rät. Aber wir sind im Heldenzeitalter, da tut man so etwas nicht. Roland ist zu stolz, um Hilfe zu bitten. Oder zu dumm, würden wir aus heutiger Sicht vielleicht sagen. Erst als er allein noch übrig ist, gebraucht er sein Horn. Karl kommt, Roland ist mittlerweile tot, und die Mauren haben sich verdrückt. Ende der Geschichte.

Jean Fouquet, Der Tod Rolands

Jean Fouquet: „Der Tod Rolands“

So weit die Story des Rolandlieds. Nur stimmt sie nicht. Die wahren Ereignisse sind einbisschen verwickelter. Der angeblich eidbrüchige Marsilie ist der Emir von Zaragoza, der gerade sein eigenes islamisches Fürstentum gegründet hat. Weil er aber Schiss hat, dass der Emir von Córdoba, Abd ar-Rahman I, der sich als Herrscher über ganz Spanien sieht, ihm aufs Dach steigen könnte, ruft er Karl den Großen zu Hilfe. Der kommt gleich mit einem Riesenheer, Marsilie bekommt es mit der Angst vor seinem Verbündeten zu tun und macht die Tore von Zaragoza zu, und Karl zieht wieder ab. Auf dem Rückweg plündert er mal eben das baskische Pamplona, und die rachedurstigen Basken locken seinen Markgrafen Roland bei Roncesvalles in einen Hinterhalt. Mit besagten Folgen.

Roland – nur halb ein Retter des Abendlands

Man sieht, so recht zum Sinnbild einer Abwehrschlacht des christlichen Europas gegen den heidnischen Islam taugen die Geschehnisse von Roncesvalle nicht. Christen, Muslime, das ist alles ein gewaltiges Kuddelmuddel, und man schlägt sich mal auf die eine, dann auf die andere Seite. Das ändert sich erst, als die Kirche sich reinhängt und das ideologische Unterfutter für die Reconquista, die Wiedereroberung Spaniens durch christliche Heere, liefert.

In Roncesvalles erzählt die Führerin einer eifrig lauschenden Touristen-Schar beide Versionen der Geschichte, die heldische und die wahre, und geht dann mit uns in die Kirche Santa María. In der gotischen Saalkirche sind unter einer mittelalterlichen Liegefigur die Gebeine Sanchos des Starken von Navarra bestattet. Auch er ein Held des christlichen Abendlands, der im Jahre 1212 ein Heer der Almohaden vernichtend schlug.

Grabmal Sanchos des Starken

Grabmal Sanchos des Starken

Unter der Herrschaft der strenggläubigen und durch Toleranz ebensowenig wie die Christen auffälligen Berber hatte der Islam riesige Geländegewinne zu verzeichnen. Dass Sancho der Starke vorher deren Verbündeter war und die sein Mitmachen bei der christlichen Allianz als Verrat betrachteten, verwundert zwar kaum, bekümmerte ihn aber auch nicht. Hatte der Papst ihm nicht versichert, ein Heiden gegebenes Versprechen brauche man nicht zu halten?

Um ein anderes gebrochenes Versprechen und seine Folgen, nämlich ein Eheversprechen, geht es im nahen Burguete. Man weiß nicht so recht, ob man den schmucken Pyrenäen-Ort ein Dorf oder eine Stadt nennen soll. Ganz allgemein gesprochen haben ja die Dörfer in Spanien stadtähnliche Strukturen, mit wegen der mittäglichen Hitze eng zusammenstehenden Häusern in schmalen Straßen. Ich möchte Burguete einen Weiler nennen, müsste ich nicht befürchten, mich mit solch altfränkischer Bezeichnung lächerlich zu machen.

Wir sind hier in Navarra, einem ehemals von Spanien unabhängigen Königreich, das heute die Spanisch sprechenden Spanier ebenso für sich beanspruchen wie die Basken, die freilich ebenso meist Spanisch sprechen, das sie, um deutlich zu machen, dass es in Spanien mehrere autochthone Sprachen gibt, konsequent Castellano nennen, Kastilisch.

Jedenfalls kommt mir Burguete mit seinen weißen Mauern, den sauberen Eckrustizierungen, Balkonen und roten Fensterläden ganz und gar nicht spanisch sondern sehr baskisch vor.

Einparkhilfe in Navarra

Ich parke meinen Bus auf einem kleinen Platz. Es ist eng, ich muss hin und her rangieren, und ein Mann, der soeben mit einem Brot unter dem Arm des Weges kommt, gibt mir mit Handzeichen Einparkhilfe. Ein freundlicher Mann, der wegen des gelungenen Manövers über das ganze sonnengebräunte Gesicht strahlt. Woher, will er wissen. Ah, aus Alemaña, sein Neffe lebe in „Deulan“, in „Stugar“. Er arbeite bei Mercedes und verdiene gutes Geld. Der Mann reibt Daumen und Zeigefinger, und um mit meiner Kenntnis spanischer Umgangssprache anzugeben, sage ich: „Mucha Pasta“, Kies, Moneten, Kohle.

Der Mann lacht und sagt, er heiße José. Aus Burguete sei er nie herausgekommen. Ab und zu zum Einkaufen nach Pamplona, das sei eigentlich schon alles. Ob Burguete eher ein spanischer oder ein baskischer Ort sei, frage ich ihn. José kratzt sich am Kopf. Er scheint verlegen zu sein. Also, er fühle sich als Baske, spreche aber kein Baskisch. Dass die Kinder jetzt die Sprache ihrer Urgroßeltern, die man ihren Eltern und Großeltern nicht erst unter der Franco-Diktatur ausgetrieben hat, in der Schule wieder lernen können, findet er richtig. Doch müsse man auch die Castellanos verstehen, die nicht wollten, dass ihre Kinder eine Sprache lernen, die, wie man so höre, mit keiner anderen Sprache der Welt auch nur entfernt verwandt sei. Zum Glück könnten die Eltern ja wählen, ob sie das wollten. In Burguete jedenfalls lebten Castellanos und Basken friedlich miteinander, und in den meisten Familien spiele die Frage, wer und was man denn nun sei, keine Rolle.

José lacht wieder. Probleme machten nur die Politiker, sagt er und wird dann plötzlich ganz ernst. Die verdammte ETA gebe jetzt glücklicherweise Ruhe. Jedenfalls im Augenblick. Doch man wisse ja nie – er wiegt den quadratischen Schädel auf dem Stiernacken zweifelnd hin und her –, was noch komme.

Wir schweigen beide. Dann sage ich:

„Spricht man hier eigentlich noch von Hemingway? Der war doch vor neunzig Jahren mehrmals in Burguete.“

„Ach, Don Ernesto. Den kennt hier jeder. Es kommen ja immer noch viele Amerikaner, die sehen wollen, wo er gewohnt hat. Da drüben war es, in dem Hostal.“

Er zeigt auf das Hostal Burguete, ein kleines Hotel auf der anderen Seite der Straße. An diesem frühen Vormittag ist es noch geschlossen und José sagt:

„Es ist noch zu früh in der Saison. Aber was meinen Sie, was hier während des Encierros in Pamplona los ist. Kennen Sie den Encierro? Don Ernesto hat ihn berühmt gemacht.“

„Ja, mit seinem Roman ‚Fiesta’“.

José lacht wieder.

„Ich habe ihn ja nie gelesen, aber die Norteamricanos kommen seinetwegen.“

Ob ich denn auch schon mal beim Encierro dabei gewesen sei, will Josè wissen.

Meine „schlimme Hemingway-Phase“ …

Encierro in Pamplona Foto: Iñak Larrea

Encierro in Pamplona
(Foto: Iñak Larrea)

Und ob, sage ich und denke an meine schlimme Hemingway-Phase und daran, wie ich während der San Fermines, der Fiesta zu Ehren des Stadtheiligen, mit all den anderen vor den Stieren hergelaufen bin, die für die Corrida am Nachmittag durch die Straßen der Stadt getrieben werden, erinnere mich, wie ich bei meinem ersten Encierro vor Angst die ganze Nacht nicht schlafen konnte und schon auf den Lauf verzichten wollte, und daran, wie stolz und glücklich ich war, meine Angst besiegt zu haben. Ich gehörte nun dazu zu der Gemeinde der Eingeweihten, der Hemingway-Jünger. Doch die Angst blieb. Jedes Mal musste ich sie von Neuem besiegen, auch wenn ich jetzt wusste, wo die Gefahr, von einem Stier aufgespießt oder von einem in Panik geratenen Läufer zu Boden gerissen zu werden, am geringsten war.

Das sei lange her, sage ich, und José nickt. Er laufe schon seit Jahren nicht mehr mit, das sollten jetzt Jüngere machen. Außerdem seien es viel zu viele und das sich daraus ergebende Gedränge sei nicht ungefährlich.

Aber der Name Hemingway ziehe halt die Touristen an, sage ich.

Encierro in Pamplona Foto: Asier Sloana Bermejo

Encierro in Pamplona
(Foto: Asier Sloana Bermejo)

„Der alte Pepe hat immer von Hemingway erzählt. Im ersten Jahr, wo er mit seiner Frau hier war, sollen die beiden sehr verliebt gewesen sein. Ein Jahr später hat man dann schon gemerkt, dass etwas zwischen ihnen nicht mehr stimmte. Don Ernesto war manchmal sehr grob zu der Señora, hat Pepe gesagt, und man konnte sehen, dass sie heimlich geweint hat. Aber im ersten Jahr waren die beiden sehr glücklich. Don Ernesto hat im Irati geangelt, und die Señora hat im Gras gesessen und gelesen. Pepes Vater hat abends die Forellen gebraten, die er gefangen hat, und Pepe hat sie ihnen dann an den Tisch gebracht. Die Señora soll immer sehr freundlich gewesen sein.“

Ernest und Hadley Foto John F. Kennedy Presidential Library and Museum Boston

Ernest und Hadley
(Foto: John F. Kennedy Presidential Library and Museum Boston)

„Ja, sie hieß Hadley, und alle haben sie gemocht. Hemingway hat es sich eigentlich nie verziehen, dass er sich von ihr getrennt hat.“

„Er hat sich dann ja erschossen, erzählt man. War das deshalb?“

„Es war wohl vieles“, sage ich, und dabei lassen wir es bewenden. Ich verabschiede mich von José und setze an zu einer Rundfahrt durch Navarra und Aragón, zu Kirchen und Klöstern, Burgen, alten Städten und einer atemberaubenden Natur. Doch davon will ich das nächste Mal erzählen.

← Teil 18 | Teil 20 →