Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 20: In Navarra
Von Hannes Hansen
Eunate. Die Straße von Burguete hinunter nach Pamplona führt durch Hemingway-Country. In dem Pyrenäendorf war der junge, noch unbekannte Autor mit Hadley, seiner ersten Frau, glücklich, im nahen Irati – heute noch ein El Dorado für Fliegenfischer – fing er Forellen, und unten in Pamplona vergnügte er sich beim morgendlichen Encierro, beim Lauf der Männer vor den Stieren her, die für die Corrida, den „Tod am Nachmittag“, wie der Titel eines seiner Bücher lautet, durch die Straßen der Stadt getrieben werden. Einst eine lokale Mutprobe für die Mozos, die jungen und nicht mehr ganz so jungen Kerle, ist der Encierro durch den Erfolg von Hemingways Roman Fiesta – ein Kultbuch in der anglophonen Welt – längst zu einem internationalen Event und bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden, der jedes Jahr Tausende aus aller Welt, vor allem aus den USA, anzieht. Dass sich inzwischen auch junge Frauen der Mutprobe beim Encierro unterziehen, gehört zu den Erfolgsgeschichten der radikalen Veränderung im Verhältnis der Geschlechter, das von traditionellen Rollen nichts mehr wissen will.
Nur etwas mehr als vierzig Kilometer sind es von Burguete nach Pamplona, aber die Strecke ist kurvenreich, und so dauert es fast eine Stunde, bis ich in Pamplona ankomme. Noch einmal eine halbe Stunde brauche ich, um einen Parkplatz am Fuß der Calle Santo Domingo gleich neben dem Pferch zu finden, in dem während der Fiesta zu Ehren des Stadtheiligen San Fermín die Stiere auf ihren Auftritt warten.
Noch sind es an die vier Wochen bis zum Beginn der Fiesta, doch in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt drängen sich an diesem Samstag die Menschen. Alle sind in Feierstimmung, die Cafés und Bars sind voll, ein Chor singt baskische Volkslieder, und Straßenmusikanten machen auf Trommeln und Pfeifen eine quäkende Musik. Nur mit Mühe finde ich auf der Terrasse der Bar Xoco an der Plaza del Castillo, Hemingways Lieblingsbar in Pamplona, einen Platz. Laut und lärmend geht es hier zu und deshalb verziehe ich mich auch bald in das Café Iruña auf der anderen Seite des großen Platzes. In diesem würdevollen Café im Stil Wiener Kaffeehäuser scheint die Zeit still zu stehen, nichts, möchte man meinen, ist in den vergangenen Jahrzehnten an Einrichtung und Dekor verändert worden. Vor allem aber sind die dickflüssige Schokolade, die nichts mit einem gemeinen Kakao zu tun hat, und die dazu servierten Churros, längliche, mit Zucker bestreute Krapfen, von höchster Qualität. Also bestelle ich mir ein halbes Dutzend und genieße mein zweites Frühstück.
Derart gestärkt mache ich mich auf den Weg nach Süden und bin in wenigen Minuten weit weg von der Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts im tiefsten Mittelalter. Die kleine Kirche Santa María de Eunate liegt einsam auf freiem Feld in vollkommener Stille. Kein Lufthauch bewegt die Blätter der wenigen Bäume, die unter der hoch stehenden Mittagssonne kaum Schatten werfen. Nicht einmal einen Vogel höre ich singen.
Der, wie Kunsthistoriker schätzen, aus der Zeit um 1200 stammende Achteckbau der Kirche mit seiner ihn umgebenden Säulengalerie und der ebenfalls achtseitigen Umfassungsmauer hat zu allerlei offenen Fragen Anlass gegeben. Welchem Zweck diente die Kirche? War sie vielleicht eine Begräbnisstätte für Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela? Könnte sein, fand man doch bei Restaurierungsarbeiten ein Gräberfeld mit durchbohrten Jakobsmuscheln, wie Pilger sie an ihrer Kleidung befestigten. War hier das Hospital der Johanniter, von dem eine Quelle aus dem Jahre 1251 berichtet?
Und wer hat die Kirche gebaut? Waren es die Tempelritter, die nach dem Vorbild der Grabeskirche in Jerusalem ihre Kirchen gerne als runde oder vieleckige Zentralbauten errichteten? Im Falle Eunate weiß man darüber nichts, und deshalb sind Kunsthistoriker mit ihrem Urteil auch zurückhaltend.
Stoff für Verschwörungstheorien – die Tempelritter
Doch sind gerade die Tempelritter für jede Art von Spekulation, und sei sie noch so verstiegen, das geeignete Objekt. Als gesichert kann jedoch nur gelten, dass der 1118 in Jerusalem nach dem ersten Kreuzzug gegründete Ritterorden, eine militärische Eliteeinheit, die sich dem Kampf gegen die Ungläubigen verschrieben hatte, auf Befehl von Papst Clemens V. im Jahre 1312 wegen angeblicher Ketzerei, Sodomie, Götzenverehrung und anderer schändlicher Praktiken aufgelöst wurde. Zwei Jahre später verbrannte man Jacques de Molay, den letzten Großmeister, nach einem siebenjährigen Prozess in Paris auf dem Scheiterhaufen.
Der international organisierte Orden, der nach seiner Vertreibung aus Palästina durch die islamischen Mameluken Niederlassungen in ganz Europa besaß, war dem Papst und dem französischen König zu mächtig geworden. Zudem hatten ihn neuartige Finanzgeschäfte und ein kompetentes Abrechnungssystem im Zuge der Verwaltung seiner Einkünfte reich gemacht, und er betrieb Geldverleih in großem Stil. Da der französische König bei ihnen hoch verschuldet war, lag das päpstliche Ordensverbot in seinem Interesse. Also machte er Druck auf den Papst, unter anderem mit der Drohung, er könne ja auch eine eigene katholische Kirche gründen. Und überhaupt, hatten die Päpste nicht allerlei Dreck am Stecken? Clemens V. verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und reagierte entsprechend. Eine Lösung, die alle Seiten befriedigte: Der französische König war seine Schulden los, der Papst behielt seinen kirchlichen Führungsanspruch und hatte sich dabei auch noch eines lästigen, weil mächtigen Konkurrenten entledigt.
So weit also die Fakten. Doch immer wieder tauchen Theorien auf, die letzten Tempelritter hätten sich nach Schottland gerettet und von dort aus die Neugründung des Ordens betrieben. Seitdem wirkten sie als mächtiger Geheimbund in aller Welt. Dieser Meinung ist auch ein hagerer, wie ausgedörrt wirkender Engländer, der, wie er erzählt, den Spuren der Templer in Frankreich und Spanien nachgeht. Er hat sich zu mir gesellt und redet eifrig auf mich ein. Ich solle ihn Terence nennen, sagt er.
Meinen Einwand es gebe zwar zahlreiche unter dem alten Namen firmierende Neugründungen religiöser, esoterischer oder nationalkonservativer bis faschistischer Art, das seien aber keine mächtigen Geheimbünde, lässt Terence nicht gelten. Die meine er nicht und natürlich auch nicht die Spaßorden mit ihren albernen Ritterspielen. Tatsache sei aber, dass ein die ganze Welt umspannender Tempelritterorden der Mächtigen aus Politik, Wirtschaft und Industrie seit Jahrhunderten den Gang der Ereignisse in seinem Sinne und nach seinen Interessen bestimme.
„Woher wissen Sie das?“ frage ich Terence.
Terence macht ein überlegenes Gesicht und blickt lauernd um sich, als wolle er sich vor verborgenen Lauschern schützen. Wir beide sind aber die einzigen Menschen weit und breit. Terence sagt:
„Das darf ich nicht sagen. Ich weiß es aber aus absolut zuverlässiger Quelle. Mein Gewährsmann hat auch zu dem Orden gehört. Er hat ihn aber verlassen und lebt jetzt unter anderem Namen in einem anderen Land. Er hat Angst, dass der Orden ihn umbringt. So wie er Kennedy umgebracht hat.“
„Kennedy? Ich denke, Lee Harvey Oswald …“
„Ein gedungener Mörder, der dann wieder von einem anderen, ebenfalls gedungenen Mörder umgebracht wurde.“
„Und warum das alles?“
„Kennedy war selbst ein Tempelritter. Als amerikanischer Präsident wollte er aber die Macht des Ordens beschneiden. Das hat ihn sein Leben gekostet.“
„Aha.“
„Ja, da staunen sie, was?“
Das tue ich in der Tat, und deshalb sage ich:
„Und wer gehört noch dazu?“
„Prince Charles.“
„Auch Deutsche?“
„Ja, natürlich, Franz Josef Strauß und viele andere.“
Weil ich so geduldig und scheinbar gutgläubig zugehört habe, öffnen sich jetzt bei Terence, der aber nicht so heißt – „Ich muss meinen Namen geheim halten, verstehen Sie“ – die Schleusen der Beredsamkeit. Napoleon, erster Weltkrieg, die jetzige Finanzkrise, alles und jedes hat mit den Tempelrittern irgendwie zu tun.
Zum Glück verabschiedet sich der Mann mit dem Decknamen Terence bald, und ich bin endlich wieder allein mit der kleinen Kirche, die so viele Geheimnisse zu bergen scheint, und kann mich an ihrer einzigartigen Architektur und ihren fein ausgearbeiteten Details erfreuen. Kann eintauchen in die Stille und Kühle ihrer Mauern und im Halbdunkel des Innenraums meinen Gedanken nachhängen.
Als ich wieder hinausgehe in die Hitze des Tages ist es Nachmittag geworden. Am Himmel kreist ein Paar Rotmilane, und in den Bäumen tschilpen Spatzen. Ich fahre meinen Campingbus in ein nahes Wäldchen. Hier will ich die Nacht verbringen, bevor ich morgen aufbreche nach Aragón, dem zweiten alten spanischen Königreich südlich der Pyrenäen.
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