Unterwegs mit Hannes Hansen – Teil 22: In Santo Domingo de la Calzada und in Berceo
Von Hannes Hansen
Berceo. Die Nacht habe ich wieder einmal in der Einöde bei dem Kirchlein Santa María de Eunate verbracht. Der Tag verspricht, heiß zu werden, und ich mache mich schon früh morgens auf den Weg nach Santo Domingo de la Calzada. Er führt durch die Rioja, eine der kleinsten Regionen Spaniens und bekannt für ihre Weine. Die Straße folgt den Konturen der hügeligen Landschaft von klassischer Harmonie mit ihrem Dreiklang aus sattgrünen Weinbergen, goldgelben Weizenfeldern und den in der Ferne blauenden Bergen der Sierra de la Demanda.
Ein Heiliger als Städtegründer, Glanz und Elend Spaniens und eine Kalorienbombe
Den ersten Stop lege ich in Santo Domingo de la Calzada ein, einem wichtigen Zwischenhalt auf dem Weg nach Santiago de Compostela zum Grab des Nationalheiligen Spaniens, des Apostels Santiago, des heiligen Jakob. Hier baute der Legende nach ein frommer Einsiedler mit Namen Domingo García um das Jahr 1050 eine Brücke über den Fluss Oja, um den Pilgern die mühevolle Reise auf dem Jakobsweg zu erleichtern. Ein Hospital, ein Herberge, baute er ihnen auch und verbesserte die Pilgerstraße. Ganz nebenbei gründete er dazu auch noch die nach ihm benannte Stadt des „heiligen Domingo des Weges“, wie die deutsche Übersetzung ihres Namens lautet. Und das alles im Alleingang, müssen wir annehmen, denn die Legende weiß von keiner Hilfe.
Santo Domingo zeigt sich als eine lebendige Provinzstadt, deren breite Boulevards mit Café- und Barterrassen unter Schatten spendenden Bäumen den Casco Viejo umschließen, die fast vollständig erhaltene Altstadt mit einem einzigartigen Ensemble von Gebäuden aus dem 15. bis 19. Jahrhundert. Mit Eremitagen, Klöstern, einer Pilgerherberge, prachtvollen Palästen und einer spätgotische Kathedrale mit barockem Südportal und einem nach Art italienischer Campanile frei stehenden Glockenturm ist die Altstadt ein architektonisches Kleinod. Von der Kathedrale führt eine schmale Gasse zur Plaza de España, einem riesigen, von Häusern mit Arkadengängen umgebenen Platz. Eine ganze Längsseite nimmt der breit hingelagerte Ayuntamiento, das spätbarocke Rathaus von 1763 ein.
Auf der Terrasse eines Cafés ihm gegenüber bestelle ich ein typisch spanisches Frühstück: Churros y chocolate. Churros sind eine Art in Öl frittierter und mit Zucker bestreuter länglicher Krapfen aus Brandteig, die man in die Schokolade tunkt. Die ist española, auf spanische Art gemacht, dickflüssig und bittersüß und gar nicht zu vergleichen mit dem dünnen Zeugs, das man andernorts als Schokolade oder Kakao zu bezeichnen die Stirn hat. Wer einmal spanische Schokolade getrunken oder im Extremfall gelöffelt hat, weist jede andere Zubereitungsart hohnlachend von sich. Dass eine Normalportion von einem Dutzend Churros – es gibt auch halbe Portionen, aber die sind für Kinder und Touristen – und einer großen Tasse Schokolade den Tageskalorienbedarf einer durchschnittlichen Couch Potato deckt, übersieht man gerne. Solche Überlegungen sind wie die Kinderportionen etwas für Weicheier, Warmduscher und Vorwärtseinparker.
Satt und zufrieden blicke ich um ich. Viel zu groß erscheinen mir Platz und Rathaus für die Kleinstadt von gerade einmal sechseinhalb tausend Einwohnern und der junge Mann am Nebentisch, der mich anspricht, als er mich in einem Architekturführer blättern sieht, stimmt mir zu. Er stellt sich mir als José Miguel vor. Er hat Volkswirtschaft studiert und jetzt lehrt er regionale Wirtschaftsgeschichte an der Universität der Rioja in der nahen Provinzhauptstadt Logroño.
„Alles von dem Gold und Silber, das die Konquistadoren von den Indios erpresst und geraubt haben“, sagt er und deutet auf das Rathaus.
„Ja“, antworte ich, „damals war Spanien reich und mächtig.“
„Das mächtigste Land Europas. Es hat aber mit seinem Reichtum nichts Gescheites anzufangen gewusst. Monarchie, Adel, Militär und Kirche verprassten ihn, anstatt das Land zu modernisieren.“
José Miguel erzählt, dass zeitweise ein Drittel der Bevölkerung zum niedrigen Adel zählte, zu den Hidalgos. Einer Schicht, die zwar meist bettelarm war, aber sich zu fein zum Arbeiten fühlte und lieber Raufhändel führte. Um die Ehre ging es dabei meist.
„Das hält kein Staat, keine Volkswirtschaft aus“, sagt José Miguel und erzählt einen bösen Witz. Nicht die Amerikaner hätten als erste den Mond betreten sondern die Spanier. Die hätten einfach eine menschliche Leiter aus Priestern, Soldaten und Hidalgos gebildet, auf der man bequem zum Mond klettern konnte.
Der Schlendrian führte folgerichtig zum Staatsbankrott. „Als das hier gebaut wurde“, José Miguel deutet auf das Rathaus, „war das Geld längst futsch. Spanien lebte auf Pump, und das Volk verarmte. Seitdem und nicht erst seit Franco gibt es die zwei Spanien, das Spanien der Reichen und das der Armen, das der arroganten Schnösel von der Rechten und der Träumer von der Linken. Unfähig sind sie beide, aber die Rechte ist noch dazu korrupt.“
José Miguel redet sich in einen glühenden Eifer und ich sage beschwichtigend: „Korruption und ungleiche Verteilung gibt es überall, nicht nur in Spanien.“
José Miguel lacht. Ein gellendes, ein bitteres Lachen. „Ja“, erwidert er, „das stimmt. Aber in Spanien ist alles noch einmal schlimmer. España es diferente, auch hier.“
Ich verstehe das Maß seines Zorns, als ich höre, wie er Francos alten Wahlspruch „Spanien ist anders“, mit dem der Caudillo seine Diktatur zu legitimieren suchte, ins Gegenteil verkehrt. Er hat keinen Blick für die kirchliche Jugendgruppe, die singend aus einer Nebenstraße auftaucht, die Plaza de España diagonal überquert und in der zur Kathedrale führenden Gasse verschwindet. Stöcke, Hüte und die Jakobsmuschel auf Kleidung oder Rucksack weisen die Jungen und Mädchen als Jakobspilger aus. Ich bezahle meinen Kaffee, verabschiede mich von José Miguel, folge ihnen und gehe die paar Schritte zur Kathedrale. Dort wartet ein Wunder auf mich.
Wer die Messe stört, wandert in den Kochtopf
Das Wunder präsentiert sich recht wunderlich. In einem barocken Prachtkäfig tun ein blütenweißer Hahn und eine Henne das, was Hühner gemeinhin tun; sie laufen geschäftig umher, scharren hier ein wenig, kratzen dort wichtigtuerisch und picken nach Futter. Ab und zu gackert die Henne, in gemessenen Abständen kräht der Hahn. Warum die Hühner ausgerechnet in einer Kathedrale ihren Stall haben, erzählt eine Legende, die sich in jedem Reiseführer findet und in einer Unzahl von Broschüren breitgetreten wird. Sie sorgt mit für den Strom von Touristen, die es jedes Jahr nach Santo Domingo zieht, und geht so:
Im Mittelalter, als die Wallfahrt nach Santiago schon einmal wie heute Konjunktur hatte, soll eine deutsche Familie nach Santo Domingo de la Calzada gekommen sein. Vater, Mutter und Sohn übernachteten in einem Wirtshaus. Die Tochter des Wirts warf begehrliche Blicke auf den anscheinend attraktiven jungen Mann, der aber, fromm und keusch wie er war, ihr eindeutiges Angebot zurückwies. Auf Rache sinnend, verfiel sie auf einen hinterlistigen Plan. Sie versteckte einen Silberbecher in seinem Gepäck, und als der Verlust bemerkt wurde, durchsuchte man das Gepäck der deutschen Familie und wurde natürlich fündig. Ein Schnellrichter machte kurzen Prozess mit dem jungen Mann, und er wurde aufgehängt. Das hinderte die traurigen Eltern nicht daran, weiter zu pilgern. Gelübde ist schließlich Gelübde.
Auf dem Rückweg kamen sie wieder am Galgen vorbei, wo der Gehängte sich als quicklebendig erwies und sie ansprach. Er sei gar nicht tot, sagte er, Santiago – oder war es Santo Domingo? – habe ihn gehalten. Überglücklich eilten die Eltern zum Richter, der gerade genüsslich zwei Hühner verspeiste. Als ihm die Eltern von der wundersamen Rettung ihres Sohnes erzählten, antwortete er, dass dieser so tot sei wie die beiden Hühner auf seinem Teller. Gebraten oder nicht gebraten, die Hühner erhoben sich und flatterten von hinnen. Der Sohn wurde ab- und die Wirtstochter aufgehängt, und die Familie zog unter Absingen frommer Lieder nach Hause. Seitdem hält man zur Erinnerung an die Legende und zur frommen Erbauung der Gläubigen zwei Hühner, einen Hahn und eine Henne, in der Kathedrale.
Ende gut, alles gut also. Vor allem für die Kirche, die Stadtkasse, Cafés und Kneipen und die zahlreichen Souvenirhändler. Einer der größten Andenkenläden befindet sich praktischerweise gleich in der Kathedrale. Religiöser Kitsch wie Pilgerfiguren, der heilige Jakob oder Santo Domingo, alle aus Plastik „made in China“, stehen neben bunten Hochglanzbroschüren und erbaulichen Traktaten. Als ich in einer dieser Schriften blättere, erschallt plötzlich das laute Kikeriki des Hahns in seiner nur wenige Meter entfernten Prachtvilla. Was man denn mache, wenn der Hahn während einer Messe krähe, will ich von einem der zahlreichen Verkäufer wissen. Er grinst und sagt:
„Gar nichts. Das gehört dazu.“
Dann wird sein Grinsen stärker und er sagt:
„Einmal hatten wir einen, der fing pünktlich zur Messe an zu krähen und hörte gar nicht wieder damit auf.“
„Und was hat man dagegen unternommen?“
„Er wurde ausgetauscht und wanderte in den Kochtopf.“
Glanz und Elend eines Legendenlebens, denke ich, und: Undank ist der Welt Lohn. Der Hahn ist schließlich, man verzeihe mir das schiefe Bild, die Gans, die goldene Eier legt.
Ein Dichter oder „Wie tötet man Tote?“
Nur wenige Kilometer sind es bis zu dem kleinen, gerade einmal einhundertundsiebzig Einwohner zählenden Örtchen Berceo mitten in der Sierra de la Demanda. Es wäre nicht weiter bemerkenswert, wäre es nicht der Geburtsort von Gonzalo de Berceo. Der gelehrte Mönch gilt als der erste dem Namen nach bekannte Dichter spanischer Sprache. Er verfasste Marien- und Heiligenlobpreisungen und Abhandlungen zu religiösen Fragen in einem Versmaß, das sich Mester de Clericía nannte und sich mit seinem regelmäßigen Versmaß – für die Versfetischisten: Strophen mit je vier vierzehnsilbigen Alexandrinern –abhob von der unregelmäßigen und unter den Gelehrten weniger renommierten, dafür aber lustigeren Spielmannslyrik für das gemeine Volk.
Wie er aussah, weiß man natürlich nicht, aber vor dem Rathaus aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert blickt sein Bronzebildnis würdevoll auf den Betrachter. Wenige Meter weiter steht die von einem reichen Einwohner Berceos im Jahre 1886 gestiftete Kirche. Der kleine gepflasterte Platz vor ihr liegt unter einer brütenden Sonne. Nur einige Bäume spenden ein wenig Schatten. In der Hitze des späten Vormittags versuchen zwei Männer, zwischen ihnen eine Festtagsdekoration aus bunten Fähnchen und Glühbirnen aufzuhängen. Am nächsten Tag wolle man eine Verbena feiern, ein Dorffest zu Ehren San Juans, wie Johannes der Täufer auf Spanisch heißt, erklärt mir einer der Umstehenden. Morgen sei sein Namenstag. Richtig, sage ich, der vierundzwanzigste Juni. Das ist schließlich auch mein Namenstag. Und seiner auch, sagt der Mann. „Hannes – Johannes – Juan“, ein Name. Mein neuer Bekannter schlägt mir kräftig auf die Schultern. Da solle ich doch gleich da bleiben und mitfeiern. Das kann ich nicht, weil ich mich für heute schon mit meinem Sohn in Bilbao verabredet habe.
Immer wieder gleitet den beiden mit der Dekoration sich Abmühenden unter dem Gelächter der halben Dutzend Zuschauer das Gewirr aus Kabel und Leine aus den Händen. Ein Mann ruft ihnen zu: „Así no se mata a los muertos.“ Was dieser Spruch – zu Deutsch: „So tötet man keinen Toten“ – denn nun zu bedeuten habe, frage ich Juan. Der zieht die Stirn in Falten und kratzt sich am Hinterkopf. Darüber, sagt er, habe er noch nie nachgedacht. Klar, einen Toten könne man nicht noch einmal töten. Aber das sage man halt.
Na dann, denke ich, ist das eben so. Spanisch ist schließlich nicht die einzige Sprache auf der Welt, die mit Merkwürdigkeiten aufwartet. Und mit dieser Gewissheit mache ich mich auf den Weg nach Bilbao.
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