Das Schleswig-Holsteinische Landestheater zeigt Tracy Letts’ Familiendrama „Eine Familie“

Von Hannes Hansen

Rendsburg. Kurt Tucholskys schrieb irgendwo einmal – ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächtnis –, das Wort „Familienbande“ habe einen unagenehmen Beigeschmack nach Wahrheit. Tuchos gallige Bemerkung scheint dem amerikanischen Schauspieler, Dramatiker und Fernsehautor Tracy Letts aus dem Herzen zu sprechen, denn schlimmer als auf der Bühne des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, wo sein Stück „Eine Familie“, das dem Vernehmen nach von eigenen Erlebnissen inspiriert ist, am Samstag in Wolfram Apprichs Inszenierung eine umjubelte Premiere feierte, kann es eigentlich nicht zugehen.

Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

Zur Handlung (so weit vorhanden): Clan-Chef Beverley Weston ist klammheimlich abgehauen, Selbstmord, wie man später erfährt. Warum? Schuldgefühle, nichts Genaues weiß man nicht. Das hindert die angereiste Mischpoke, die gekommen ist, Opa Beverleys Witwe Violet beizustehen, freilich nicht, hinterhältige Revierkämpfe zu inszenieren und der ungeliebten Verwandtschaft kräftig ans Schienbein zu treten. Allen voran die krebskranke und tablettenabhängige Oma Violet, die Ingeborg Losch gekonnt als eine Mischung aus Giftspritze, Heulsuse und Nervensäge gibt. Ihre Schwester Matie Fae ist da aus härterem Holz geschnitzt und gibt Heidi Züger Gelegenheit, die Familiendomina zwischen Fürsorglichkeit und Gemeinheit wechseln zu lassen. Ihr Mann Charlie (Uwe Kramer) zeigt Mitgefühl, ist aber für seine Frau genauso ein Hampelmann wie der tappsige, längst erwachsene Sohn, den seine Mutter immer noch „Little Charles“ nennt, ein armes Schwein, den sie mit ungeheurer Gemeinheit fortlaufend zur Sau macht.

„Eine Failie“ mit Anna Franck, Manja Haueis, Lisa Karlström, Ingeborg Losch, Alexandra Pernkopf, Karin Winkler, Heidi Züger; Stefan Hufschmidt, Uwe Kramer, Simon Keel, Reiner Schleberger Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

„Eine Familie“ mit Anna Franck, Manja Haueis, Lisa Karlström, Ingeborg Losch, Alexandra Pernkopf, Karin Winkler, Heidi Züger; Stefan Hufschmidt, Uwe Kramer, Simon Keel, Reiner Schleberger Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

In die Reihe der Giftnudeln reiht sich die vom Leben und ihrem Mann Bill (Stefan Hufschmidt), der sich lieber mit Minderjährigen als mit ihr vergnügt, enttäuschte Tochter Barbara, von Karin Winkler mit imponierenden Wutanfällen ebenso wie mit stiller Verzweiflung und bösartigen Ausfällen präsentiert. Lisa Karlströms Tochter Ivy ist dagegen ein liebes Mädel, das von einem besseren Leben mit ihrem Cousin Charles träumt. Aber denkste, daraus wird nichts, ahnt man früh und erfährt es spät. Manja Haueis als dritte Tochter Karen meistert auf stille Weise den Kontrast zwischen vorgeblicher Naivität und Harmlosigkeit einerseits und eiskalter, auf ihren Vorteil bedachter Berechnung andererseits. Ihr zukünftiger Gatte Steve, den der wie gewohnt zuverlässige Reiner Schleberger wiederum wie gewohnt mit ein bisschen zu gelenkiger Lässigkeit gibt, ist ein Hallodri, der sich prompt an Barbaras vierzehnjährige Tochter Jean heranmacht. Seine Avancen prallen freilich an dem frühreifen Mädchen ab, das Alexandra Pernkopf als störrischen Teenager mit atemberaubender Coolness gibt, der gelangweilt abwinkt. Soll sich der geile alte Bock doch an ihr abreagieren, was geht sie das an, gibt sie der konsternierten Verwandtschaft zu verstehen. Anna Franck schließlich ist als Haushälterin Johanna eine meist stumme Mahnerin, eine Gestalt wie ein ganzer Chor in einer griechischen Tragödie. „Eine Familie“ reiht sich nahtlos ein in eine Ahnenreihe solcher Familiendramen von Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ über Tennesse Williams’ „Endstation Sehnsucht“ zu Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Auch an Martin Walsers „Zimmerschlacht“ mag man denken oder an eine Reihe von Dramen Ibsens.

„Eine Familie“ mit Anna Franck, Manja Haueis, Lisa Karlström, Ingeborg Losch, Alexandra Pernkopf, Karin Winkler, Heidi Züger; Stefan Hufschmidt, Uwe Kramer, Simon Keel, Reiner Schleberger Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

„Eine Familie“ mit Anna Franck, Manja Haueis, Lisa Karlström, Ingeborg Losch, Alexandra Pernkopf, Karin Winkler, Heidi Züger; Stefan Hufschmidt, Uwe Kramer, Simon Keel, Reiner Schleberger Ingeborg Losch in „Eine Familie“ (Foto: Landestheater SH)

So weit so gut also, oder so schlecht. Das Genre hat nämlich seine Tücken. Irgendwo muss ein Wow versteckt sein, ein Dénouement, ein Grund für all das, was Familienmitglieder sich antun. Diesen Grund liefert Tracy Letts’ Stück zwar auch, aber erst nach der Pause. Eineinhalb Stunden lang, wird sich beharkt, bis man sich sagt: „Herr, lass es ein Ende nehmen, ich hab’s ja verstanden“, zumal die geäußerten Bosheiten meist von recht erdgebundenem Witz sind.

Wolfram Apprich hat das gespürt und auf Mirjam Benkners treppenförmig ansteigender, nur sparsam und zeichenhaft möblierter Bühne eine Art Familienaufstellung vorgenommen, bei der sich alle Familienmitglieder gemäß ihrer jeweiligen Rolle im Raum verteilen. Nur bringt das psychotherapeutische Verfahren nicht viel, denn fast die ganze Zeit über weiß man nur, dass die meisten Beteiligten sich gegenseitig hassen, aber nicht warum sie das tun. Wir sind hier im Theater nicht in der Therapie. Für die berühmte aristotelische Katharsis braucht es doch ein wenig mehr als freigebig verspritztes verbales Gift, und all die Kunstanstrengung läuft ins Leere. Kurz, die Inszenierung hätte gut daran getan, an dem langatmigen Stück kräftige Striche vorzunehmen.

Weil lange Zeit also gar nichts passiert, lässt der Regisseur seine Akteure und Aktricen zur Kompensation recht outriert agieren. Große Gesten, stimmgewaltige Wutausbrüche, zum Himmel schreiende Verzweiflung, verbale Hiebe eher mit dem Schwert als dem Florett sollen Schwung in die Sache bringen. Der kommt, wie gesagt, nach der Pause, und man wacht aus dem Dämmerschlaf, in den einen das Bisherige versetzt hat, auf. Leider zu spät.