Erinnerungsstücke von einer spätsommerlichen Kulturreise nach Wien –
Teil 2

Von Christoph Munk

Wien, Wien, nur Du allein … Nein, es sind nicht die Lieder, die mich immer wieder in die Donaumetropole treiben. Es sind auch nicht die Schnitzel, nicht der Heurige, also auch nicht der Wein und nicht der Schmäh. Es ist eher die Weltläufigkeit im Gewande der gemütlichen Provinzstadt – wenn ich mal den Trubel des Ersten Bezirks hinter mir gelassen habe. Und es ist vor allem die kulturelle Vielfalt auf höchstem Niveau, die speziell meine närrische Vorliebe fürs gute Theater befriedigt.

In Beethovens kleiner Wohnung wird an das „Heiligenstädter Testament" erinnert. (Foto Wien Museum)

In Beethovens einstiger kleiner Wohnung wird an das ergreifende  „Heiligenstädter Testament“ erinnert. (Foto: Wien Museum)

Allerdings: Ein Besuch auf dem Kahlenberg muss immer sein. Vorbei an der Sulzwiese, wo Thomas Bernhard in einem Dramolett Claus Peymann und seinen Dramaturgen Hermann Beil eine Jause nehmen ließ. Und dann zu Fuß hinab durch die Weinberge, entweder nach Grinzing zu den Weinschenken oder rüber nach Heiligenstadt, wo ich in einem kleinen Museum, ehemals eine von Beethovens zahlreichen Wohnungen, über das ergreifende „Heiligenstädter Testament“ sinnieren konnte und wo eine kurze Gasse an den großen Bassbariton Walter Berry erinnert. Sein Ehrengrab liegt auf dem nahen Friedhof. Dort findet sich auch eine Grabstelle für den Dichter Ödön von Horvath.

Dafür jedoch fahren wir nicht extra nach Wien, sondern nehmen es auf einem Tagesauflug mit, bevor am Abend Theater lockt. Damit wird man in der Kulturmetropole schon ab Anfang September reichlich bedient: Staatsoper, Burgtheater, Theater in der Josefstadt oder mehr. Uns interessiert Joachim Meyerhoff, der uns irgendwie vertraut vorkommt, weil wir seine Bücher gelesen haben, in denen er von Kindheit und Jugend als Arztsohn in den Schleswiger Anstalten berichtet. Und natürlich auch, weil sein Arnolphe in der von Herbert Fritsch in Hamburg rasant inszenierten Molière-Komödie „Schule der Frauen“ so fulminant in Erinnerung ist. Nun also ins Burgtheater: „Der eingebildete Kranke“. Wieder Molière, wieder Meyerhoff und wieder Herbert Fritsch als Regisseur.

Alles springt, alles zappelt: Joachim Meyerhof als Argan (links) und Markus Meyer als Toilette in „Der eingebildete Kranke". (Foto Georg Soulek/Burgtheater)

Alles springt, alles zappelt: Joachim Meyerhof als Argan (links) und Markus Meyer als Toinette in Molières „Der eingebildete Kranke“. (Foto: Georg Soulek/Burgtheater)

„So ein Dreck!“, granteln zwei durchaus noch fesche bürgerliche Damen schon in der Pause. Und wollen ihre Empörung zunächst mit einem Glaserl Wein wegspülen. „Man muss sich ja vor unseren ausländischen Gästen schämen“, schnaufen sie am Stehtisch nebenan. „Und das soll die führende deutschsprachige Bühne sein?“ Hinter dieser rein rhetorischen Frage steht eine so klare Antwort, dass es ausgeschlossen erscheint, mit ihnen angesichts unserer Begeisterung in ein kontroverses Gespräch zu kommen. Ob sie beim Wein geblieben sind oder doch wieder in den Saal gefunden haben? Wir haben sie nicht mehr gesichtet. Und die Reihen und Ränge lichten sich weiter, als nach der Pause Fritsch und Meyerhoff richtig loslegen.

Denn jetzt lässt der Schauspieler die Hosenklappe runter und zeigt den Leuten, was darunter liegt und was den eingebildeten Kranken wirklich umtreibt: die (eingebildete) Krankheit und der Wunsch nach vermeintlicher Heilung. Das führt Meyerhoff als Passion vor, als Besessenheit und als Ich-Sucht. In seiner Familie taugt es ihm als Mittel zur Machtausübung. Und ihr klägliches Scheitern verkündet Meyerhoffs Körpersprache mit drastischer Deutlichkeit. Hat er vorher, wie fast alle Figuren in fast allen Fritsch-Inszenierungen, den Raum mit zuckenden Bewegungen durchmessen, als sei er angestochen oder sogar elektrisiert, drückt sein Argan jetzt nur noch – spinnenbeinig auf allen Vieren herumstaksend – eine einzige Drangsal aus: die rasende Sucht nach einem Einlauf als einzige, als letzte Rettung aus der Not, weil ihm sonst seine Stärke und damit seine Identität flöten geht: Ich leide, also bin ich!

Hübsch und gefällig ist das nicht. Aber mit allen fantastisch präzis und funkelnd agierenden Schauspielern eine bittere Komödie von prickelnder, stacheliger Lustigkeit. Hier wird mit unnachgiebiger Schärfe diagnostiziert, dass Argans Krankheit im Kopf steckt. Schön ist das nicht, in diesen Spiegel zu blicken.

Eher ein stiller Wallfahrtsort: Das Sigmund Freud-Museum im 9. Wiener Bezirk. (Foto Munk)

Eher ein stiller Wallfahrtsort: Das Sigmund Freud-Museum im 9. Wiener Bezirk. (Foto: Munk)

Sicherlich hätte Dr. Sigmund Freud helfen können. Seit vielen Jahren ehren die Wiener ihn, den sie 1938 ins Exil nach London vertrieben hatten, mit einem Museum. Vom Burgtheater aus kann man, schräg über den Ring, an der Universität vorbei, über einem kleinen, nach ihm benannten Park und durch ein paar Gassen bequem dorthin spazieren. Freuds ehemalige Wohnung in der Berggasse bietet keinen Platz für eine pompöse Gedenkstätte. Das Haus in der ruhigen Straße gleicht eher einem stillen Wallfahrtsort, vor dem keine Touristenbusse parken, sondern eher kundige Anhänger Einlass suchen. Mein Interesse war durch die Lektüre von Robert Seethalers Roman „Der Trafikant“ geweckt. Sein Schauplatz befindet sich genau dort, und sein Protagonist findet in Freud seine Bezugsperson und erlebt mit dem Einzug von Hitlers Schergen die Flucht des Psychoanalytikers.

Immerhin finden jährlich rund 90.000 Besucher – meist aus dem Ausland – den Weg dorthin in die seit 1971 für die Öffentlichkeit zugängliche ehemalige Freudsche Wohnung. Aber die Zukunft der Gedenkstätte, so meldet aktuell die Wiener Presse, ist gefährdet. „Wir sind ja in Wirklichkeit kein Museum, sondern eine 280-Quadratmeter-Wohnung.“ So zitiert die Tageszeitung „Der Standard“ den Vorsitzende der Trägerstiftung, Franz Jurkowitsch. Also wurde ein Sanierungskonzept erarbeitet, um bis 2020 das Haus vom Keller bis zum Dach zu erneuern und umfassend zugänglich zu machen. Doch im Finanzierungsplan fehlt es an der Zusage aus dem nahegelegenen Wiener Rathaus. Vielleicht könnte den Entscheidern dort eine Lektion auf Freuds legendärer Couch dienlich sein. Doch die nahm der Professor mit ins Exil. Seitdem steht sie in London.

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