Daniel Karasek überwindet am Kieler Schauspiel Brüche und Regelverstöße in Shakespeares „Das Wintermärchen“

Kiel. William Shakespares „Das Wintermärchen“ ist „der Schmarren eines Genies“, schrieb vor mehr als hundert Jahren der Berliner Kritiker Alfred Kerr, „ein Schmarren, aber unsterblich“. Generalpardon. Da kann bei einer Inszenierung dieser späten Romanze des englischen Meisters kaum etwas schief gehen. Tut es auch nicht, denn Kiels Generalintendant Daniel Karasek sorgt als Regisseur dafür, dass im Schauspielhaus trotz aller Brüche und aller Regelverstöße in dieser Bühnendichtung alles Hand und Fuß hat. Der Beifall des Premierenpublikums war ihm dafür zur Spielzeiteröffnung sicher.

Wie ein antikes Drama: Szene aus dem ersten Teil von Shakespeares „Wintermärchen". (Foto Olaf Struck)

Wie ein antikes Drama: Szene aus dem ersten Teil von Shakespeares „Wintermärchen“. (Foto: Olaf Struck)

Unübersehbar setzt die japanische Installationskünstlerin Chiharu Shiota ihre Erkennungszeichen in den Bühnenraum: Vom Portal herab hängen lang und länger weiße Frauenkleider (Reste von Shiotas Installation „The Labyrith of Memory“?). Hier nutzt Karasek die Stoffe als üppig drapierte Vorhänge, durch die aus dunklem Hintergrund immer wieder Gestalten schlüpfen, um im Hellen an einem antiken Drama teilzunehmen.

In gepflegter Rede und gemessener Gestik wird nämlich zunächst eine Eifersuchtstragödie vorgetragen: Imanuel Humm zelebriert die Wandlung des gütig-großherzigen Herrn Leontes, König von Sizilien, in einen rasenden Tyrannen. Seine tugendhafte Frau Hermione (Agnes Richter in tadelloser Manier) bezichtigt er des Ehebruchs mit dem Jugendfreund Polixenes, König von Böhmen (Christian Kämpfer mit grundsolider Haltung). Er befiehlt das Schlimmste: Tod dem Rivalen, Verdammung der Gemahlin und des Kindes, das sie gebären wird. Selbst der erlösende Spruch des Orakels zu Delphi vermag ihn nicht zu besänftigen. Erst die Nachricht vom Tod seines kleinen Sohnes bringt ihn zurück auf den Boden der Vernunft. Zu spät: Ihm bleibt ein eisig einsames Leben in Reue und Buße.

Doch Shakespeares winterliches Märchen wendet sich in einen neuen Frühling. Anderer Ort: Böhmen. Anderes Genre: Bauernkömdie. Shiotas herabgeschwebte Gewänder illustrieren nun wundersam das Gestade eines Meeres, an dem ein alter Schäfer (Claudia Macht) und ein junger Schäfer (Claudia Friebel) ein Bündel finden, darin ein Menschenkind, das sie als Tochter und Schwester aufziehen. „Ein glücklicher Tag.“ Nur den Überbringer der Fundsache, den sizilianischen Lord Antigonus (Werner Klockow), hat inzwischen der Bär gefressen.

Im Böhmenbild lässt Chiharu Shiota Möbel von der Decke baumeln. (Foto Olaf Struck(

Im Böhmenbild lässt Chiharu Shiota Möbel von der Decke baumeln. (Foto: Olaf Struck)

Egal. Zeitenwende und Szenenwechsel. Nun lässt Chiharu Shiota Gegenstände an roten Fäden von der Decke baumeln, wie es so ihre Art ist: Stühle und Tische, ein Bett, eine Kommode und noch ein paar Stühle. Und jetzt führt ein anderer Herrscher das Zepter: Autolycus, ein fahrender Sänger und Dieb, ein Schelm, aber ein König der Gosse. Mit Wonne und Witz wirft sich Marko Gebbert in diese Rolle, singend, feixend, über die Rampe sprudelnd. In Karaseks recht gesittet ausgemalter Idylle spielt er den wilden Mann. Nix geht mehr ohne ihn: Schäferlein HansNarr, dem Claudia Friebel Züge und Zunge eines Hamburger Jung gibt, vertüddelt er und bringt ihn so um’s Geld. Die Schar der Schäfer zockt er ab, ihr Schurfest in Form einer dröge dröhnenden Dorf-Disco mischt er auf. Aber dass sich Florizel, Böhmens Königssohn (Martin Borkert), in das inzwischen zum lieblichen Mädchen herangewachsene Findelkind Perdita (Nurit Hirschfeld) verliebt und von Vater Polixenes enterbt wird, kann auch er nicht verhindern. Also wiederum ein Aktschluss mit Flucht und Vertreibung.

Doch sein „Wintermärchen“ lässt der spät-milde Shakespeare glücklich enden – was sonst. Zurück nach Sizilien. Während es in den verflossenen 16 Jahren in Böhmen recht lustig zuging, ist dort der Steifheit die Beklemmung gewichen. Claudia Spielmann, deren Kostüme am Hofe auf der weißen Farbskala und in Böhmen ganz kunterbunt spielten, setzt jetzt auf Trauerschwarz. Imanuel Humms Leontes müht sich jetzt um die Anmut des Alters. Und Paulina, Hermiones Treue und Tüchtige, zeigt dank Ellen Dorns straffer Gestaltung, was moralische Strenge heißt. Das währt nicht lange, denn bald kommen die Reisenden aus Böhmen an. Und nicht nur Autolycus, der Durchtriebene, darf von versöhnenden Umarmungen berichten.

Noch kein Ende: „Shakespeare geht auf die Rührungsszene des Schlusses“, diagnostizierte einst Alfred Kerr. „Dahin will er kommen.“ Und Daniel Karasek folgt ihm textgetreu. Shiotas Flechtwerk macht noch einmal – wie damals im „Tristan“ – Sinn und Effekt. Dann ist’s vollbracht. Selbst der getreue Lord Camillo (Zacharias Preen mit nobler Zurückhaltung) findet ein herzwarmes Plätzchen. Verlorene Kinder, verbannte Söhne, neue und erneut vereinte Paare – alles endet happy. Allein: Der Schelm hat nichts mehr zu singen und zu sagen. Shakespeare hat nichts mehr für ihn geschrieben und Karasek nichts dazu erfunden. Sonst wär’s statt nur schön auch noch heiter geworden.

Karten und Info: www.theater-kiel.de