Vinograd Express auf John Zorns Spuren im KulturForum
Von Jörg Meyer
„Der Jude ist immer Ursprung einer doppelten Infragestellung gewesen: der Infragestellung des Selbst und der Infragestellung des ‚Anderen’. Da ihm nie die Möglichkeit gewährt wird, aufzuhören, jüdisch zu sein, ist er gezwungen, die Frage seiner Identität zu formulieren. Daher ist er von Anbeginn mit dem Diskurs des ‚Anderen’ konfrontiert, und oft hängt sein Leben davon ab. […] Mir wurde klar, dass ein Jude jemand ist, der naiv glaubt, dass er, wenn er selbstlos zu seiner Gastkultur beiträgt, akzeptiert werden wird. Aber wir sind die Außenseiter der Welt. Das ist es, was mich am Stamm [tribe] anzog – die Kultur des Außenseitertums.“
(John Zorn, zitiert nach Wikipedia)
Kiel. „Wir spielen das sehr frei, aber so ist es wohl auch gedacht“, kündigt die aus Flensburg stammende, jetzt Kölner Jazz-Klarinettistin Annette Maye an, wie sie und ihre Band Vinograd Express, featuring den Jazz-Klarinetten-Maestro Gianluigi Trovesi, die Spur von John Zorns „Masada Songbooks“ aufnehmen. Die Flügel der Band sind dabei im KulturForum nicht nur frei, sondern auch sehr breit: Die meisten der frei improvisierten Stücke haben sinfonische Länge von mehr als 15 Minuten.
In der Tat hat sich der experimentierfreudige (Free-) Jazzer John Zorn sein „Masada-Projekt“ so gedacht: als Material aus Quellen des Klezmer, (Balkan-) Folk bis hin zu Jazzrock und Neuer Musik, über das frei und ausführlich improvisiert werden darf (und soll). Entsprechend neumusikalisch klingt das Gebläse aus Mayes Bass-, Trovesis Altklarinette und Udo Molls immer wieder gern ausflippender Trompete im 25-minütigen Nonstop-Langstreckenflug der ersten beiden Stücke „Kisofim“ und „Kanah“: Es ächzt, röchelt, quiekt. Vor allem aber atmet es den Geist der „Radical Jewish Culture“, der sich Zorn als bekennender Jude verbunden fühlt. Auch das Publikum muss nonstop jenen langen Atem haben, sich auf die biblische Breite der Stücke einzulassen. Und tut das ebenso bereitwillig wie zunehmend begeistert, etwa bei dem klezmer-beschwingten „Khebar“, das mit nur fünf Minuten Dauer vor der Pause ungewohnt kompakt daherkommt.
Die zweite Hälfte gibt Eigenkompositionen im Geiste John Zorns Raum. Etwa Annette Mayes „Ihre Launen“, das den gesamten Gefühlskosmos zwischen tief grübelnder Meditation und expressiver Exaltation aufspannt. Aber das ist nur das Präludium zu Udo Molls „Rubidium 37“. Er habe einst „das gesamte Periodensystem der Elemente vertonen“ wollen, erzählt Moll, doch sei nur bis zur Ordnungszahl 37, dem Alkalimetall Rubidium, gekommen. Dessen rubin-rot glühende „Vertonung“ wird zum beeindruckendsten Klangerlebnis des Abends: einem fulminanten 24-minütigen Solo des neuen Drummers Bernd Oezsevim, begleitet von den homophon schillernden Akkorden des Bläser-Trios und Janko Hanushevskys geduldigem E-Bass.
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