Isabelle Lehn und Martin Lechner bei der LeseLounge im Literaturhaus
Von Jörg Meyer
Kiel. Was ist wirklich, was nur inszeniert? In der Erzählkunst ja stets die Frage – mehr noch in Zeiten von Fake-News und des „Postfaktischen“. Bei der LeseLounge im Literaturhaus gaben Isabelle Lehn und Martin Lechner darauf surreale bis groteske Antworten.
Ja, sowas gibt es wirklich: Camps in der Oberpfalz zur Vorbereitung von ISAF-Soldaten auf ihren Einsatz in Afghanistan, wo eigens engagierte Statisten den Bevölkerungshintergrund mimen, überwacht von einem „Supervisor“ für das möglichst realistische Setting. Isabelle Lehn begegnete einer solchen „Statistin“: Rohmaterial für ihr Romandebüt „Binde zwei Vögel zusammen“.
Ihr Protagonist Albert ist Journalist und verliert – mehr als „embedded“ – in solchem Trainingscamp und vor allem danach den Bezug zur Realität. Alberts und seines Alter Egos Aladdin Wahrnehmung gerät in den Fugen zwischen Wirklichkeit und Inszenierung immer mehr aus den selben. „Ich habe mich mit meinem Text selbst an jener Realitätsverschiebung beteiligt“, gesteht die Autorin, die für ihren kafkaesken Roman in Internet-Foren von ISAF-Statisten unterwegs war, und dabei „fast den eigenen Realitätssinn verloren“ hätte.
Aber was ist schon „real“ in Zeiten von digital inszenierten Identitäten und Social Media, in denen das Wahre längst nicht mehr vom Erfundenen unterschieden wird? Krieg in Afghanistan, deutsche Soldaten beteiligt, das ist schon „spooky“ genug. Lehn treibt es auf die Spitze, bis im Surrealen niemand mehr weiß, wer er ist – oder nur darstellt.
Vom Surrealen ins Groteske wendet diesen Realitätsverlust – oder wiederum -Gewinn im Poetischen – Martin Lechner in seinem Erzählband „Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen“. 63 Kurz- und Kürzestgeschichten (zuweilen nur drei Sätze) hat er darin versammelt.
Geschrieben zunächst in thematischen Serien, hätten die Texte „begonnen, miteinander zu reden“. Aus solchen Text-Dialogen entstanden Miniaturen, die wie bei Lehn „spooky“ anmuten. Etwa „Der Schacht“, der sich aus einem schmalen Spalt an der Türschwelle entwickelt und bald als unüberwindbarer Abgrund klafft. Oder der „Schäfersee“, der sich als Ich-Erzähler danach sehnt, dass ihm endlich „der Stöpsel gezogen“ würde, damit seine Wasser nicht mehr die menschlichen Katastrophen an seinen Ufern umspülen müssten. „Derlei geschieht nicht auf Erden“, um mit Thomas Manns Tonio Kröger zu sprechen. Oder doch …?
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