Im Studio des Kieler Schauspiels: „Ich rufe meine Brüder“
von Jonas Hassen Khemiri

Von Christoph Munk

Kiel. Zwei Explosionen. In der Innenstadt ging ein Auto hoch. War das ein Terrorakt? Wann ist es passiert? Der Zeitpunkt ist ungewiss: neulich. Ein Mann ist im Spiel. Noch wurde niemand gefasst, niemand verdächtigt. Aber Amor hat so ein vages Gefühl. „Ich rufe meine Brüder an“, sagt er darum. Und: „Jetzt geht’s los. Haltet euch bereit.“ So ein Anfang klingt spannend für ein Stück. Viel versprechend sogar, wenn sein Titel beinahe so heißt wie seine ersten Wörter: „Ich rufe meine Brüder“. Sein Autor ist der schwedisch-tunesische Dramatiker Jonas Hassen Khemiri, der berichtet, er habe darin eine eigene Erfahrung auf ein Attentat mit islamistischem Hintergrund in Stockholm verarbeitet. Diese Motivation allerdings verblasst in der gut applaudierten Inszenierung von Friederike Harmstorf im Studio des Kieler Schauspiels.

Köpfe und Figuren aus der Welt draußen: Szene mit Marius Borghoff, Nurit Hirschfeld (Mitte) und Ellen Dorn. (Foto: Olaf Struck)

Amor ist ein junger Mann, möglicherweise Student und der Protagonist in Khemiris Bühnentext, und vielleicht sogar die einzige konkrete Figur. Denn die Regiekonzeption von Friederike Harmstorf verstärkt den Eindruck, alles spiele sich nur in Amors Kopf ab: die Telefonanrufe, Gespräche, Episoden, Begegnungen, Konfrontationen seien nur Erinnerungen, Einbildungen, Hirngespinste oder Trugbilder. Wenig nimmt wirklich fassbare Gestalt an in dem von Sammy van den Heuvel irreal gemeinten Bühnenraum. Der aus ungezählten Kabelsträngen deckenhoch gespannte Zaun grenzt nach hinten eine Außenwelt ab, die mit Lichtreflexen und Geräuschfetzen geheimnisvoll erscheint. Hände dringen von dort durch, Köpfe, halbe Leiber, selten ganze Figuren.

Und wenn diese Gestalten auf der vorderen Spielfläche agieren, nehmen sie wenig eigene Konturen an. In den uniformen Kostümen von Eva Begemann – schwarze Kittel, weite Loops – gleichen sie eher leicht veränderten Doppelgängern Amors, beinahe Spiegelbildern oder etwa Wiedergängern. Mehr Varianten scheint dessen Fantasie nicht herzugeben. Seine Tagträume, Zwangsvorstellungen, Schreckensvisionen, Angstgebilde formen offensichtlich nur kümmerliche Erscheinungen. Sollte der Terror in Amors Kopf ausgebrochen sein, löst er dort nur moderate Wirkungen aus.

Tagträume, Angstvisionen, Hirngespinste? – Martin Borkert als Amor. (Foto: Olaf Struck)

Er ist eben ein harmloser Bursche, dieser Amor, wie ihn Martin Borkert durch die Dialoge geistern lässt. Da steht ein netter Junge von nebenan, dem man eher zutraut, dass er einem das Fahrrad repariert als dass er zu einem radikalen Anschlag fähig wäre. Sein Auftreten wirkt freundlich, seine Sprechweise zeugt von Bescheidenheit und Zurückhaltung, sogar von Unsicherheit. Sollte ihn gerade die sanfte Wesensart vom Typ unauffälliger Nachbar verdächtig machen? Stellt der Zuschauer diese Frage, kann er weitergehend erkennen, dass lauter Alltagsfiguren das Spiel bevölkern. Denn Nurit Hirschfeld und Ellen Dorn setzen sprachlich keine markanten Akzente und liefern keine scharfgezeichneten Charaktere. Selbst Marius Borghoff als Kumpel Shavi versucht sich in Sprache und Habitus nur andeutungsweise an einem Abbild des netten, lässigen Jugendlichen.

Das hat Methode bei Friederike Harmstorf. In der Absicht, ein sanftes, allgemeingültiges Lesestück zu vermitteln, verändert sie auch das Finale. Denn Khemiri lässt im Schlussbild seinen Protagonisten Amor ein „verdächtiges Individuum“ erblicken und als sein Spiegelbild erkennen: Es ist gekennzeichnet durch schwarze Haare, einen ungewöhnlich großen Rucksack und ein Palituch vor dem Gesicht. Nicht so in Friedrike Harmstorfs Inszenierung. Sie fördert damit und mit ihrer Figurenzeichnung die Erkenntnis, Amor sei einer von uns und seine Kopfgeburten Leute wie wir. Richtig gut gemeint kommt mir das vor. Besonders problemorientiert und aufregend aber nicht.

Info und Termine: www.theater-kiel.de