Ein Einwurf zur Begleitveranstaltung der Ausstellung
„Bürger auf Abwegen. Thomas Mann & Theodor Storm“ im Landeshaus

Von Hartmut Tödt

Ich liebe es, die Kunstbereiche, in denen ich seit Jugendzeiten heimisch bin bzw. die mir in den Jahrzehnten zur Heimat geworden sind und nach denen ich in ihrer Abwesenheit regelmäßig Heimweh empfinde mit dem spärlichen Trost, sie in mir selbst inszenieren zu können, ich liebe es, diese Kunstbereiche zu „verlebendigen“, mich ihnen zu öffnen, mich von ihnen provozieren zu lassen und zuzulassen, dass durch sie etwas Bemerkenswertes in mir geschieht, das mich – vielleicht nur um Nuancen – kontinuierlich verändert. In Situationen wie der Begleitveranstaltung zur Ausstellung „Bürger auf Abwegen. Thomas Mann & Theodor Storm“ am vergangenen Montagabend (6.2.2017) im gutgemeint zweckentfremdeten Plenarsaal geschieht dieses – vergleichbar meinen Erfahrungen in zahllosen Konzertsälen der so genannten Hochkultur – durchaus nicht.

Info-Tafeln, Originaldokumente und -gegenstände der beiden Dichter prägen die Ausstellung. (Foto: Landtag)

Alles wird, der Rezeptionshaltung der Publiken entsprechend, eher „kulinarisch“ zum wohlfeilen Verzehr präsentiert, Sperriges, Eckiges, erratisch über den Köpfen Schwebendes abgerundet und „eingeholt“, so dass auch die Gefahr eines seelischen „Durchfalls“ ins spurenlose Abseits gerät und damit ebenjenes „Abseits“ verstellt wird, in dem die schwierigen „bürgerlichen“ Abwege etwa eines Theodor Storm oder eines Thomas Mann wirklich wenigstens skizzenhaft erkennbar werden, die – nach der „Vivisektion“ der Fassaden – keineswegs mehr mit der zur Schau gestellten (mediokren) spätbürgerlichen Qualität der „Kennerschaft“ zur Deckung zu bringen sind. Diese Inkongruenz zu verdecken, dazu trägt selbst der inhaltlich gelungene Vortrag eines so renommierten Literaturwissenschaftlers wie Heinrich Detering nicht eben Weniges bei. Und die Schönheit von Rhetorik und Suada und das adorierte Spezialistentum entfalten dabei eine das aktive „Vergessen“ zusätzlich verstärkende sedierende Wirkung!

Und dann: Warum rezitiert man nicht wirklich Unheimliches, das einen frieren macht, wie z.B. „Einer Toten“ oder „Geh nicht hinein“ von Storm – zusätzlich zu den von mir bereits geahnten „Hyazynthen“, sehr wohl als Copula zu „Tonio Kröger“? Sicher, man trägt die Tanzstunde aus dem 2. Kapitel der Novelle in Auszügen vor, und zwar in der „natürlichen“ Gewissheit einer erwartungsgemäß „günstigen“ Aufnahme beim Publikum. Ja, „und wir waren darüber doch spürbar im Mindesten amüsiert“ (fast ein O-Ton Thomas Mann). Da mag unser guter, wohlintonierter Freund im Übrigen durchaus richtig liegen, wenn er meint, das nun könne auch Schüler und Schülerinnen wie eine geile Käseprobe aus ihrem kulturellen Mauseloch locken … irreführend aber die optimistische Annahme, dieses nun sei „effektiv“ im Stande, ein „tieferes Interesse“ an den ästhetischen Botschaften gerade dieser Novelle zu evozieren. Übertragbar auf vieles andere aus dem frühen Prosawerk, v.a. auf „Tristan“, „Friedemann“ und „Wälsungenblut“.

„Irrwege“ oder doch nur „Abwege“?

Warum erarbeitet man nicht die tieftragischen Analogien zwischen „Immensee“ und „Tonio Kröger“, auf die Thomas Mann in seinem Essay von 1930 ja durchaus in Andeutungen hinweist? Richtig, „man“ verweist zu Recht auf den Primat der Affinität Thomas Manns zur Lyrik Storms, ohne – wie gesagt – diese motivisch tiefer auszuloten, aber Tonio Kröger findet im Storm-Essay ja durchaus eindeutig statt. Das zentrale Kapitel 4, nämlich die die Wendung einleitende Unterredung mit Lisaweta Iwanowna, wird eigens überhaupt nicht thematisiert. Hier aber findet sich der eigentlich authentische „Titel“ der hiesigen Ausstellung in der finalen und für den Protagonisten vernichtenden Aussage der wirklichen Künstlerin Lisaweta: „Sie sind ein Bürger auf Irrwegen, Tonio Kröger – ein verirrter Bürger.“ Akzeptabler sind für eine solche Ausstellung natürlich die Abwege; gut, die probate Abwandlung hätte aber gern kurz problematisiert werden können.

Was bedeuten denn eigentlich für Tonio Kröger die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“, nach denen er sich so sehr sehnt? Es sind – so meine Antwort – die verschlungenen erotischen Wege, nur oberfläch gesehen „Abwege“ oder „Irrwege“, nein, gezielt intendierte Wege Aschenbachs in der eigentlichen Geschwisternovelle „Tod in Venedig“, in der sich seine Identität gewollt verliert, ertrinkt und stirbt im imaginierten Meer und Mehr der Schönheit, die Mensch im Sinne Platons und Graf von Platens sinnlich in ihrer Vollkommenheit gar nicht ertragen kann. Organisch angelegt wäre hier der Verweis auf das von Mann so geliebte Gedicht „Tristan“ von August von Platen, beginnend mit den Verszeilen „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, / Ist dem Tode schon anheim gegeben.“ Warum nicht so etwas zeigen? Etwas, das ein Publikum irritiert und nachdenklicher entlässt.

Kulturelles „business as usual“

Die Werke beider Autoren sind voll solcher Möglichkeiten. Und was heißt am Ende der Novelle Tonio Kröger, als er im Vollzug einer Selbst-Offenbarung an Lisaweta schreibt: „Schelten Sie diese Liebe nicht, Lisaweta; sie ist gut und fruchtbar. Sehnsucht ist darin und schwermütiger Neid und ein klein wenig Verachtung und eine ganze keusche Seligkeit.“ Was heißt das? Die ganze, vermutlich heute unzeitgemäß anmutende Bürger-Künstler-Problematik jener beiden in ihrer tiefen (biographischen) Tragik hätte bei der Veranstaltung andere, provokativere Konturen annehmen können. Mag vielleicht auch eine Einsicht dahinter liegen, solches angesichts von „angenommen kultivierten Menschen“ in diesen Zeitläuften gar nicht mehr zu versuchen, in denen oft die Tiefe des Gemüts zur leblosen Fläche erblasster Gesichter erstarrt, die im Eigentlichen gekommen sind, um sich zu zeigen und dann wieder so zu gehen, wie sie gekommen sind. Ich ziehe heimlich vondannen, um mit 50 dieser „Repräsentanten“ nicht geführte Small Talks zu überleben. Das alles erinnert an das Wunderhorn-Gedicht „Des Antonius Fischpredigt zu Padua“, irrsinnig treffend vertont von Gustav Mahler.

Der Landtagspräsident eröffnet mit scheinbar kundigen Worten im Blick auf Storm und Thomas Mann, Offenheit des Hauses zur gelebten und lebendigen Kultur unseres Landes; ein prominenter E-Bank-Manager folgt den kleinen, schon ausgetretenen Spuren, Analogien zwischen beiden Autoren, ja, wer hätte das gedacht!; fast sprachlos vor mit gebremstem Schaum vermittelter Begeisterung, der Präsident der Storm-Gesellschaft, nett, aber mit sachlichen Schwächen; der Festvortrag von Detering – siehe oben.

Kulturelles „business as usual“, Kulturbetrieb auf schwer erträglicher Schwundstufe. „Eingreifendes Schreiben“ (Brecht) ist mehr als nur in Ansätzen beiden „Meistern“ ganz zweifellos zu unterstellen; hier aber wurde augenscheinlich „alles“, selbst das in Literatur nur geheimnisvoll Hingeraunte, mit Luft nach oben begriffen. In einem anderen als dem gewohnten Sinn war am Ende dann alles vergriffen …

Die Ausstellung ist noch bis zum 21. Februar im Landeshaus (Düsternbrooker Weg 70) zu sehen.