Bewunderung für „La Ville Imaginaire“ mit Hans-Christian Hoth, Julian Arp und Caspar Frantz

Von Christoph Munk

Kiel. Es ist ja kein Geheimnis, dass Hans-Christian Hoth und ich uns seit vielen Jahren kennen. Unsere Beziehung schwankt zwischen Freundschaft und kollegialem Respekt. Dazu gehört ein offener, rückhaltloser Gedankenaustausch über unsere Arbeit; wir schätzen wechselseitig unser künstlerisches Urteil. So versteht es sich von selbst, dass es mir unmöglich ist, Hoths gemeinsam mit dem Cellisten Julian Arp und dem Pianisten Caspar Frantz gestaltete Aufführung der „Ville Imaginaire“ mit einer üblichen Rezension zu würdigen. Dazu fehlt mir der notwendige Abstand.

Hans-Christian Hoth (links), notorischer Theatersolist, findet kongeniale Partner: den Cellisten Julian Arp und den Pianisten Caspar Frantz. (Foto: La Deutsche Vita)

Gut so. Denn das gibt mir die Freiheit, den Abend im Kieler Schauspielhaus unumwunden einen Glücksfall zu nennen, ein Wunder des Zusammenspiels von Dichtung und Musik, ein heiter-nachdenkliches und dabei völlig unbeschwertes, leichtfertiges Fest der Poesie. Ich kenne, wenn ich mich recht erinnere, alle Programme Hans-Christian Hoths, bestaune stets seine Vielseitigkeit als Autor, Regisseur und Schauspieler in wechselnden Rollen, schätze seine Beharrlichkeit, sich meist als Einzelgänger im weiten Gefilde zwischen großer Dichtung („Faust“) und kleiner Kunst in seinen kabarettistischen Programmen zu bewegen. Hoths Interpretation von „La Ville Imaginaire“, dem Gedichtzyklus von Rudolf Stibill, habe ich immer am meisten bewundert – auch ohne Musik.

Dichtung und Musik wie füreinander geschaffen

Plötzlich hat der notorische Solist in dem Cellisten Julian Arp und dem Pianisten Caspar Frantz kongeniale Partner gefunden. Ihnen verdankt „La Ville Imaginaire“ eine so überraschend schlüssige Bereicherung, dass man glauben möchte, Stibills surrealistische Stadtbilder und die von Arp und Frantz ausgewählten Stücke für Cello und Klavier seien seit jeher füreinander geschaffen. Dabei schrieb der österreichische Poet seinen Zyklus über die eingebildete oder frei fantasierte Stadt fünfzig bis einhundert Jahre später als die dazu gehörig erscheinenden Kompositionen. Er mag sich in die Zeit des Impressionismus und des Aufbruchs in die Moderne hineingeahnt haben. Oder aber Hoths Partner platzieren ihre musikalischen Kommentare mit pfiffiger Repertoire-Kenntnis und lustvoller Stilsicherheit.

Geradezu programmatisch beginnt Hoth seinen poetischen Spaziergang durch jenen Ort, in dem Leute wie Philosophen und Haarkünstler ebenso ihre Heimat haben wie menschliche Zustände wie kleine Neurosen oder Mutmaßungen. Der Rezitator startet in der „Gasse der Seiltänzer“. Denn dort „bedarf es keiner gepflasterten Straße“, weil die „Wege durch die Luft gespannt“ sind. Dort geht es um Balance und um Halt durch Bewunderung.

Worte setzen sich auf Klänge, Töne zwischen die Zeilen

Balance ist eines der Zauberworte für dieses Zusammenspiel von Dichtung und Musik. Denn mit luftwandlerischer Sicherheit setzt Hoth Stibills Sätze auf die Klänge von Robert Schumanns „Stücke im Volkston“. Oder sind es Arp und Frantz, die Schumanns Töne sensibel zwischen die Zeilen schmuggeln? Schon da kommt der Verdacht auf, aus der musikalisch-lyrischen Befruchtung könnte ein schelmisches Gesamtkunstwerk schlüpfen. Denn Sätze aus Leos Janàceks „Märchen“ oder Ravels „Habanera“ schmiegen sich elegant und pointiert in die mal surrealistisch, mal augenzwinkernden Ortsbeschreibungen der Gassen, in denen die Posaunisten oder die Lachsalven, die Haarkünstler, Maskenbildner oder Zweideutigkeiten wohnen. Camille Saint-Saens’ „Der Schwan“ führt elegisch in das „Viertel der Idealisten“, bevor Anton Weberns drei markante, schroffe Sätze aus „Opus 11“ die Gassen der Jongleure, Schirmmacher und Winkeladvokaten charakterisieren. Volle tänzerisch beschwingte Erleichterung verschaffen am Ende des Stadtspaziergangs Manuel de Fallas vier Sätze aus der Suite spanischer Volkslieder.

Der Flaneur, der Cellist und der Mann am Klavier

Keine Effekte. Niemand trumpft hier vordergründiger Wirkung wegen auf. Hans-Christian Hoth gibt über die ganze Strecke und die große, offene Bühne den entspannten Flaneur, der mit Finesse Stibills wundersame Sprachblüten zum Leuchten bringt. Mit sparsamem Gestus und präziser, delikater Mimik gibt er dem romantischen Surrealisten Roman Sürtiker Gestalt – gewissermaßen Stibills und Hoths gemeinsamem Alter Ego. Nichts stört, nichts ist übertrieben. Und wenn er die beiden Musiker behutsam umkreist, sie alleine musizieren lässt, ihnen zuhört, ihrem gewitzten, dabei immer disziplinierten Spiel lauscht, scheint er im Duo Julian Arp und Caspar Frantz als Dritter im Bunde aufzugehen.

Wer führt hier? Wer reagiert hier auf wen? Prima la musica? Prima le parole? Keiner verrät das Geheimnis. Es ist, als ob, wie es bei Stibill heißt, „Familien einander seiltanzend besuchen“. Auf höherer Ebene. Einfach wunderbar. Und bitte öfter. Doch vorerst sind keine Wiederholungen in Sicht.