Das Festival „Provinzlärm“ gab Einblicke in die Techniken und Traditionen der Neuen Musik
Von Jörg Meyer
Eckernförde. „Passiert da noch was?“, flüstert ein Zuhörer seiner Nachbarin zu. Das Schlagzeugensemble der Musikhochschule Lübeck unter der Leitung von Johannes Fischer performt im dritten Konzert des Neue-Musik-Festivals „Provinzlärm“ Matthias Kauls „do nothing, just wait, the singing will start … sooner or later“. Und in der Tat: Auf der Bühne „passiert“ nichts. Außer dass die sechs jungen Schlagzeuger kaum sichtbar langsam mit einer Zahnbürste über ihre Highhats streichen.

Trommelte virtuos durch perkussive Klangfarben: das Schlagzeugensemble der Musikhochschule Lübeck (v.l.: Louis Preudhomme, Seorim Lee, Florian Stapelfeldt, Holger Roese, Yuka Sakoji, Leitung: Johannes Fischer). (Foto: ögyr)
17 Minuten nur ein einziger Klang, mit Mikrofonen elektronisch verstärkt. Das mag langweilig erscheinen, doch erstens ist Langeweile eine Stimmung, welche die Sinne öffnet, zweitens passiert mehr, als man hört, bis sich das Gehör auf diese vermeintliche Monotonie eingelassen hat – wie der Titel ja schon sagt. Und drittens zeigt dies, wie Neue Musik funktioniert: Sie ist häufig Struktur pur, fordert den Hörer heraus, lässt sich nicht einfach nur „genießen“.
Das Stammpublikum der Provinzlärm-Biennale wie der Reihe „Neue Musik Eckernförde“ des hier ansässigen Ensembles reflexion K um die Flötistin Beatrix Wagner und den Komponisten Gerald Eckert weiß darum, und lauscht gespannt auch Morton Feldmans „The Viola in my life 1“: der Exegese eines einzigen Tons, der sich in seiner vielfältigen Klanggestalt immer wieder neu auffächert. Ähnlich in Enno Poppes „Holz“, wo ein in nicht weniger als 21 Stimmungen programmiertes Keyboard Mikrointervalle auslotet, den Glissandi der Streicher und Bläser quasi ins Wort oder den Akkord fällt. Klingt schräg – aber nur für im klassischen Dur-Moll-Schema sozialisierte Ohren.

Vera Seefeldt vom Schlagzeugensemble der Musikhochschule Lübeck trommelte Iannis Xenakis’ „Rebonds A“. (Foto: ögyr)
Dabei ist die Neue Musik gar nicht so neu, als sie scheint. Schon frühe Entdecker der Mehrstimmigkeit wie Guillaume de Machaut (14. Jahrhundert) experimentierten mit Intervallen, was José María Sánchez-Verdú in seinen „Machaut-Architekturen“ aufgreift und zeitgemäß nachkomponiert – genauer: transformiert. Oder Georg F. Haas, der in „tria ex uno“ eine Mottete von Josquin Desprez (15. Jahrhundert) aufgreift. Und Stefano Gervasoni, der in „AN – quasi una serenata“ ein Motiv von Schubert nicht zitiert, sondern im Neutönen zart durchscheinen lässt. Solche Traditionslinien zeichnet der Provinzlärm ebenso nach wie die zu der frühen Neuen Musik. Pierre Boulez’ „Sonatine“ nahm 1946 den über die Kriegsjahre fast vergessenen Impuls der 12-Ton-Technik auf und entwickelte ihn weiter.
Neue Musik ist immer wieder überraschende Erforschung des Klangs, was sich besonders in den Werken für Schlagzeug von Iannis Xenakis („Rebonds A und B“) und Maki Ishiis „Thirteen drums“ (athletisches Solo von Seorim Lee) zeigt. Der „Beat“ wird darin zu schillernden Klangfarbwechseln, manchmal sogar zum „Groove“. Das hat zuweilen etwas Meditatives wie in Michael Gordons einstündigem „Timber“, wo sechs Klanghölzer sich zu archaischen Rhythmen verbinden. „Passiert da noch was?“ Ja! – ständig in (Ver-) Wandlung.
Provinzlärms Fokus: Europa
Anders als in den fünf früheren Provinzlärm-Festivals stand diesmal statt eines baltischen Landes ganz Europa im Fokus. Festivalmitinitiator Gerald Eckert begründete das mit der „heutigen politischen Lage“, in der Europa, die Wiege vieler Musiktraditionen, namentlich derer der Neuen Musik, in der Krise stehe. Wo überall das „Fremde“ Ängste erzeugt, müsse man zeigen, wie sich Kulturen in Europa über Jahrhunderte gegenseitig befruchteten und damit die Traditionslinien schufen, aus denen das jeweils Neue keimte und keimt. Der Provinzlärm sieht sich darin durchaus politisch und die Neue Musik als wichtige Einmischung in die gesellschaftlichen Diskurse. Musik, die alte wie die (ganz) neue – viele der beim Festival aufgeführten Werke stammen aus dem 21. Jahrhundert –, baut Brücken des gegenseitigen Verstehens, nicht nur im so genannt „christlichen Abendland“, sondern weit darüber hinaus.
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