Eine Anthologie mit Kiel-Bezug versammelt über 60 Gedichte von 40 Autoren 

Von Hannes Hansen

Es sind nicht nur Zerstörer, Möwen und die Klagen über das Schmuddelwetter, die in der im Wachholtz Verlag erschienenen Anthologie „Kiel im Gedicht“ ein poetisches Bild der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt zeichnen. Aber klar: Für manche der über 40 Autoren von Stine Andresen bis Annemarie Zornack sind sie der Initialfunke, der ihre lyrische Phantasie entzündet, und so tauchen sie des Öfteren in der gut recherchierten Auswahl auf, die der durch seine literarischen Stadtführungen bekannt gewordene Walter Arnold zusammengestellt hat.

Von links oben nach unten rechts: Ole Petras, Ingrid Glienke, Ilse Behl, Annemarie Zornack, Arne Rautenberg, Peter Thurmann, Joachim Vahland, Stefan Schwarck, Walter Arnold, Nils Aulike, Jörg Meyer (Foto: Bressot-Carton)

Freilich, einen lyrischen Flächenbrand, der die Vorstellungskraft des Lesers auf den Siedepunkt treibt, fachen sie nur selten an; oft, allzu oft, ist es ein gemütlich wärmendes Herdfeuer, um das sich die Damen Dichterinnen und Herren Dichter versammeln. Doch dazu später mehr. Da freut man sich jedenfalls, wenn etwa Ole Petras sein „Kiel, Alexandraplatz“ mit dem wütenden Rundumschlag gegen die Widrigkeiten der modernen Medienwelt „Dafür ist Geld da: einen begrünten Flecken gegenüber der Tankstelle / mit einem Schild zu versehen, weil um die Ecke mal eine semiprominente / Schlagersängerin gewohnt hat …“ beginnt und dann unverdrossen weiter auf „Flipsconaisseure“, „Dyanologen“ und „Baumstreichler“ einprügelt. Das jedenfalls geschah sehr zum Vergnügen der Zuhörer im pickepackevollen Literaturhaus, wo Walter Arnold am vergangenen Dienstag seine Anthologie vorstellte. Aber: Ist das ein Gedicht, so richtig mit überraschenden Metaphern, neuen Bildern, frischer, unverbrauchter Sprache, einem sinnfälligen Zeilenfall? Eine Frage übrigens, die man sich auch bei manchen anderen Texten des Bandes stellt. Aber egal, in Zeiten der literarischen Grenzüberschreitungen und des poetischen Crossovers wollen wir nicht allzu beckmesserisch sein und – analog einem gängigen Kunstbegriff – unter dem Stichwort „Gedicht“ alles subsumieren, was sich als solches ausgibt.

Jörg Meyer / ögyr
(Foto: Almut Behl)

Und sonst? Um es kurz zu sagen: In „Kiel im Gedicht“ finden wir manches Gelungene – so ögyrs (Jörg Meyer, unser Mitblogger) „9.11.kiel“, eine dunkle Beschwörung der zerstörten Kieler Synagoge, deren Verse „während ich schwieg, /  hörte ich einen psalm / und begann zu sprechen / als ein meister aus deutschland“ frösteln machen. Klavkis „Meine Stadt“ mit dem Vers „Selbst die Toten riechen hier nach Meer“ oder den flüchtigen Impressionen „Und am Himmel. / Weiße Bojen. Ein Fahnen-Vorbei / Fusseliges Himmelsplankton“ mag man nennen. Oder Michael Augustins „Wir werden die Stadt verlassen“, das der ewigen Möwendichterei mit „Wir werden …/ … erst wiederkehren, /  wenn keine Möwen  mehr / über die Förde segeln / Wir werden wiederkehren / am Tag der Kaninchen“  eine poetologische Absage erteilt und mit den Worten „Wir werden die alten Möwengedichte / versenken“ endet.

Natürlich sind auch die Altvorderen wie Klaus Groth, Detlev von Liliencron, Theodor Fontane und Kurt Tucholsky vertreten. Noch einmal also: Manches Gelungene findet sich in Walter Arnolds Anthologie. Aber auch: Gutgemeintes, banale Notate, Offensichtliches, manchmal Ärgerliches. Doch lassen wir es dabei bewenden.

An Frische und poetischer Prägnanz unübertroffen bleiben dagegen die Gedichte Annemarie Zornacks und ihres vor gut drei Jahren verstorbenen Ehemannes Hans-Jürgen Heise. Aus gutem Grund ist ihre welthaltige Lyrik in über 30 europäische und außereuropäische Sprachen übersetzt worden. Deshalb hier also zwei ihrer auch in „Kiel im Gedicht“ erschienene Poeme:

Annemarie Zornack
(Foto: Mathias Michaelis, Deutsches Literaturarciv 2013)

Annemarie Zornack

friedlicher sonntag

die zerstörer an der tirpitzmole
bis an die zähne bewaffnet
sind so sanft
einwattiert in das grau des himmels
nur vom kriegshafen die segelbootmasten
spiegeln erregte EKG-zacken aufs wasser
der windsack hat potenzschwierigkeiten
an diesem schwülheißen Tag und
die arbeiter drüben auf der howaldt-werft
hämmern ihren frust über die förde

Hans-Jürgen Heise
(Foto: Mathias Michaelis, Deutsches Literturarchiv 2013)

Hans-Jürgen Heise

Mit unleserlichem Visum

Drei vermummte Frauen segeln
mit flatternden Kopftüchern
nach Gaarden
übers kalte Wasser 

Die Kieler Förde – ein nördlicher
Bosporus (bis hart
an die gartenzwerge heran
wohnen die Gastarbeiter)

Ahmet aus Istanbul
Ismet aus Kayseri
Der Mond hat einen Türkenpass
mit unleserlichem Visum

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