Ferdinand von Schirachs umstrittenes Pseudo-Dokumentarstück „Terror“ im Kieler Ratssaal

Von Christoph Munk

Kiel. Das Ergebnis lautete 79 zu 49. Im Klartext: 79 der Zuschauer entschieden sich nach der Premiere von Ferdinand von Schirachs Stück „Terror“, den Angeklagten als „nicht schuldig“ zu betrachten und somit freizusprechen; 49 votierten für „schuldig“ und damit für eine Verurteilung wegen 164-fachen Mordes. „Das hätte ich jetzt nicht für möglich gehalten“, sagt mein Sitznachbar. „Meistens geht es so aus“, entgegne ich, denn ich habe mich vor der „Terror“-Aufführung des Kieler Schauspiels im Ratssaal ein bisschen informiert: In 50 Theatern in acht Ländern urteilten seit der Uraufführung im Oktober 2015 mehr 300.000 Zuschauer als „Laienrichter“ (61 Prozent) mit „nicht schuldig“. Ihr Votum führte in über 92 Prozent der Theaterverhandlungen zu Freisprüchen.

Anklage, Beweisaufnahme Plädoyers im Ratssaal: Szene aus „Terror“. (Fotos: Olaf Struck)

So klar die Ergebnisse scheinen, so verworren sind die Gründe dafür. Denn Ferdinand von Schirach konstruiert für sein Pseudo-Dokumentarstück den Fall des Kampfpiloten Lars Koch, der angeklagt ist, ohne direkten Befehl ein Linienflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen zu haben. Er wollte damit verhindern, dass die von einem Terroristen gekaperte Maschine in einem mit 70.000 Besuchern besetzten Fußballstadion zum Absturz gebracht wird. Im Hintergrund setzt sich der Autor mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2005 auseinander, in dem eine bisher im Luftsicherheitsgesetz vorgesehene Abschussermächtigung für verfassungswidrig erklärt wird.

In Schirachs Text wird jedoch über verfassungsrechtliche Fragen nur am Rande oder im Hintergrund verhandelt. In der Hauptsache geht es um die strafrechtlichen Konsequenzen, zu denen sich das Verfassungsgericht ausdrücklich nicht äußert. Es stellt vielmehr klar, dass die in unserem Grundgesetz mit höchstem Rang geschützte Würde des Menschen es ausschließt, menschliches Leben gegen Leben aufzuwiegen. Genau dieser Abwägung aber folgte der Kampfpilot Koch, als er sich entschieden hatte 164 Passagieren der Linienmaschine zu opfern um das Leben von 70.000 Stadionbesuchern zu retten. Richtig oder falsch, gerecht oder rechtswidrig? Humane Moral oder Verfassungstreue?

Sachliche Argumentation: Ellen Dorn als Staatsanwältin

Vor diese Wahl sieht sich der Zuschauer gestellt, wenn er am Ende der Vorstellung als „Laienrichter“ seine Stimme für „schuldig“ oder „nicht schuldig“ abgeben soll. Es ist ein Scheinproblem. Denn die Anklage hätte durchaus nicht nur eine Bestrafung wegen vielfachen Mordes beantragen, sondern auch Entschuldigungsgründe berücksichtigen können. Dann hätte die Verteidigung an der Findung eines nach beiden Seiten gerechtes Urteils mitwirken können. Schirachs spektakuläre Muster-Konfrontation wäre dann allerdings in sich zusammengebrochen. Denn dass ein Entweder-Oder nicht ohne Alternative ist, haben zahlreiche Fachjuristen dargestellt und an Schirachs Konstrukt kritisiert. Namentlich die Juristen-Politiker Gerhard Baum und Burkhard Hirsch in einem FAZ-Interview und der Bundesrichter Thomas Fischer in seiner polemischen Kolumne für die ZEIT. Wer will, mag sich daran orientieren.

Mit Überzeugungskraft: Martin Borkert (li.) als Angeklagter, Oliver E. Schönfeld als Verteidiger

In der theatralischen Abwicklung dieses Pseudo-Gerichtsverfahrens durch das Kieler Schauspiel sind kaum Auffälligkeiten festzustellen. Denn im redlichen Bemühen, die Ebene nüchterner Sachlichkeit nicht zu verlassen, hält sich Regisseur Jörg Diekneite folgsam an die Regeln des prozessualen Ablaufs. Der Ratssaal als Schauplatz für ein Schwurgericht lässt der Ausstatterin Marie Rosenbusch ebenso wenig Entfaltungsmöglichkeit wie die Bekleidungsvorschriften für Roben und Uniformen. Demgemäß suchen auch die Schauspieler den Schein des Authentischen zu erzeugen. Werner Klockow als Vorsitzender tastet sich so vorsichtig und Wort für Wort sprechgehemmt in seinen Richtertext als befände er sich auf glattem Eis. Ellen Dorn als Staatsanwältin beschränkt sich mit beeindruckender Disziplin auf ihre Argumentationslinien, während Oliver E. Schönfeld den Verteidiger mit Überzeugungswillen gibt. Zacharias Preen als Zeuge bleibt stur im Offizierston. Und Martin Borkert ist in der Rolle des Angeklagten wenigstens ein emotionaler Ausbruch aus dem Duktus kluger Besonnenheit gegönnt. Vor Gericht bleibt man kühl und beherrscht. Da fällt Genia Maria Karaseks effektvoller Auftritt als Nebenklägerin umso deutlicher aus dem Rahmen.

Nach all den gelassen vorgetragenen Erörterungen zwingt Schirachs Stück den Zuschauer zum Urteil, ob der Angeklagte sich mit seiner Entscheidung, die Linienmaschine abzuschießen, mit Schuld beladen hat oder nicht. Diese Alternative ist überflüssig und ärgerlich, besonders wenn an die Konsequenzen gedacht wird: Dann steht das Schicksal eines Menschen (lebenslange Strafe für einen vielfachen Mord) gegen Bruch mit unserer Verfassung (Missachtung der unantastbaren Menschenwürde). Das ist ein Dilemma, das nicht sein müsste. Denn das Strafrecht bietet Auswege daraus. Darauf hätte das Kieler Schauspiel mit seiner betont sachlichen Inszenierung hinarbeiten können – auch in Abweichung von Schirachs Vorlage. Es könnte die Sachdiskussion durchaus beflügeln.

Info und Termine: www.theater-kiel.de