Malte Kreutzfeldt erhellt am Kieler Schauspiel Dea Lohers verhangenes Dialogstück „Unschuld“
Von Christoph Munk
Kiel. Was für ein wundersamer, würdevoller Reigen! Getragen von Schuberts „Ave Maria“ schweben, den Figuren eines alten Glockenspiels gleich, die Akteure aus Dea Lohers „Unschuld“ auf der Drehscheibe an den Blicken der Zuschauer vorbei. Noch bilden sie, seltsam erstarrt, eine Gemeinschaft, aber bald werden sie sich lösen und als Gestalten in den Szenesplittern aus dem Dunkel wieder auftauchen. Alle erscheinen sie dann irgendwie verloren, auf der Suche nach einer Existenz, nach Sinn. Denn bei dem Stück mit dem bedeutungsvollen Titel handelt es sich um eine ernsthafte Angelegenheit. Malte Kreutzfeldts Inszenierung für das Kieler Schauspiel durchzieht sie allerdings mit Elementen verzweifelter und doch beglückender Komik.

Lebensretter mit gebremstem Einsatzwillen: Felix Zimmer (li.) und Marko Gebbert als Immigranten Elisio und Fadoul. (Fotos: Olaf Struck)
Zuerst geht eine Frau ins Meer. Vom Strand aus beobachten sie Elisio und Fadoul. Sie wollen sie retten, tun’s aber nicht, weil sie fürchten, als illegale Immigranten entdeckt zu werden. Macht ihr Zögern sie schuldig? Frau Habersatt hingegen fragt das nicht, denn sie fühlt sich mit Schuld beladen, wenn sie sich bei fremden Leuten grundlos als Mutter eines Attentäters oder Amokläufers zu entschuldigen versucht und doch ihre Last nicht los wird. Frau Zucker hingegen mischt sich, weil sie unter schwerem Diabetes leidet, als Belastung in die Ehe ihrer Tochter Rosa mit dem braven Franz und hegt nicht die geringste Spur von Schuldgefühlen. Alle drehen sich, alle wenden sich, alle gehen insgeheim auf die Jagd nach Vollendung. Nur Ella nicht, die Philosophin an der Seite des stummen Goldschmieds Helmut. Sie hat alle Aktivitäten aufgegeben, ihre Artikel, Essays, Leserbriefe, Reden. Sie glaubt nur noch an die Unzuverlässigkeit der Welt. Das ist ihre letzte Erkenntnis. Und die bildet ein zentrales Motiv in Dea Lohers lose verketteten Geschichten und Episoden. Ab und zu ist darin auch von Selbstmördern die Rede, unzuverlässigen, versteht sich.
Dank der Drehscheibe und mit Hilfe von herauf- und herabfahrenden halbdurchsichtigen Wänden verschafft sich Regisseur Malte Kreutzfeldt als sein eigener Bühnenbildner auf immer neuen Schauplätzen die Chance, die Bruchstücke der Handlungen zu einer Kette zu verbinden. Und wo nötig klöppelt Schlagzeuger Björn Lücker musikalische Effekte dazu. Allmählich schält so Kreutzfeldts versierte Personenregie, unterstützt von Christine Hielschers markanten Kostümen, immer klarere Charaktere, Handlungsstränge und ausdrucksstarke Bilder aus Lohers verschlungenen Texten. Da ergeben sich Verdichtungen unter den Szenen und Verbindungslinien zwischen Gestalten, die allesamt vom Dasein schräg ins Leben gestellt scheinen – ob schuldig oder unschuldig. Einige regen sich und suchen, sich eigenständig aus ihrer Schieflage zu befreien.
Zum Beispiel und besonders aktiv die beiden Immigranten: Fadoul, zunächst der Träge, wird von Marko Gebbert mit dem gewohnt satten und verschmitzten Witz belebt. Er entwickelt sich zum Glücksritter, denn er findet eine Tüte voll Geld und erkennt darin die Botschaft Gottes und den Auftrag, seiner neuen Geliebten, der blinden Nackttänzerin Absolut (zauberhaft zerbrechlich: Nurit Hirschfeld) zum Augenlicht zu verhelfen. Oder Elisio, der Eifrige: Ihn beseelt Felix Zimmer mit dünnhäutigem Optimismus und einem Spürsinn, der auch nicht nachlässt, als er am Ende in Rosa (Claudia Friebel mit betörender Gleichmut) jene Frau gefunden hat, die er anfangs aus dem Meer retten wollte.
Doch nicht alles verändert sich. Magdalena Neuhaus stopft unbeirrt stoisch die Philosophin Ella voll mit nervöser Redelust. Yvonne Ruprechts Frau Habersatt und Claudia Machts Frau Zucker bleiben ebenso Figuren, die in ihrer Spur verharren, wie Rudi Hindenburgs gutmütiger Franz in seiner kleinen Zufriedenheit und Marius Borghoffs Helmut in seinem Schweigen aus Gold. Jennifer Böhm und Christian Kämpfer ergänzen als Normalos das Personenregister, zu dem sich per Video Imanuel Humms Präsident gesellt.
Am Ende: Wiederum bittet Malte Kreutzfeldt zu einem musikalischen Gebet mit Schuberts „Ave Maria“. Fast schließt sich der Kreis und doch ist nicht alles vollendet. Manche Träume enden, manche Sehnsüchte bleiben unerfüllt, die Tugend der Unschuld scheint noch unerreicht. Noch hängt also der Nebel von Dea Lohers bitterer Traurigkeit über den Geschichten. Doch Malte Kreutzfeldt vertreibt ihn, zumindest teilweise, mit warmherzigem Humor. Im Ganzen aber fügt seine Inszenierung ein bizarr anmutendes Kaleidoskop zu einem faszinierenden Mosaik zusammen: glitzernde Farben zwischen Resten von dunklen Rätseln. Zum Schluss: Beifall vom Feinsten.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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