Eine Kieler Ausgrabung: Jean-Marie Leclairs „Skylla und Glaukos“ musikalisch und szenisch spannend
Von Christoph Munk
Kiel. Es ist das ewige Elend: Zwei Frauen verlieben sich in denselben Mann. Das geht selten gut aus. Auch nicht in der Mythologie des antiken Griechenland. Von dort nämlich holte sich der französische Barockkomponist Jean-Marie Leclair den Stoff für „Skylla und Glaukos“, seine „Tragédie en musique“ in einem Prolog und fünf Akten. Darin präsentiert sich die tragische Dreiecksgeschichte von Liebe und Leiden, Eifersucht und Verrat in musikalisch edler Gestalt – im Kieler Opernhaus durch den Gastdirigenten Václav Luks glänzend poliert und szenisch einfallsreich ausgeschmückt durch die Regisseurin und Choreografin Lucinda Childs, zusammen mit ihrem Ausstatter Paris Mexis.

Barockes Liebesdrama unter bedeutenden Zeichen: Szene aus der Kieler Inszenierung von „Skylla und Glaukos“ (Fotos: Olaf Struck)
Die Opernwelt darf sich darüber wundern, dass die Opernkostbarkeit so lange im Schoß des Vergessens schlummerte. Nach seiner Pariser Uraufführung 1746 erlebte das Werk nur eine begrenzte Zahl von Aufführungen, möglicherweise als Folge des Streits über die Vorzüge des italienischen gegenüber dem französischem Musikstil. Danach interessierten sich so wenige Theater für Leclairs einzige Oper, dass sich Kiel jetzt, rund 270 Jahre später, an einer Deutschen Erstaufführung erfreuen darf.
Die Entdeckung lohnt sich, denn vom ersten Bogenstrich an wird deutlich, dass Vàclav Luks das aufmerksam gespannte Philharmonische Orchester und den herausragend präsenten Opernchor (Einstudierung: Lam Tran Dinh) auf die Qualitäten der Partitur eingeschworen hat. Das klingt bereits in der Ouvertüre frisch und funkelnd, neben der energischen Attacke zeigt sich ein sicheres Gespür für die melodischen und rhythmischen Feinheiten. Denn gleichzeitig straff fordernd und doch überaus subtil steuernd arbeitet Luks die klangliche Dramaturgie der Komposition heraus, die „französische“, tänzerische Leichtigkeit neben der „italienischen“, effektvollen Dramatik – den überaus präzis ausgeführten Basso Continuo eingeschlossen. Schon im Orchestergraben ereignet sich also eine farbige, ereignisreiche musikalische Tragödie.
Doch dem steht das Geschehen auf der Bühne in nichts nach. Regisseurin Lucinda Childs und Ausstatter Paris Mexis folgen der Typologie der Titelfiguren in der griechischen Mythologie. Skylla ist darin ein Nymphe, beheimatet im oder am Wasser, und Glaukos ein Gott des Meeres. Also entfaltet sich das Liebesdrama als Seestück. Darauf weist mit deutlichem Bedeutungswillen schon zu Beginn der mit barocken Zeichnungen von Wesen der maritimen Fauna und Flora überzogene Vorhang hin. Das setzt sich fort in Bühnenelementen, die Korallen nachempfunden sind, und der Kostümierung von Glaukos, der mit stacheliger Rückenflosse und halbem Fischleib erscheint. Auch sein Vertrauter Licas, das Chorgefolge und die Tänzer sind mit flossenartigem Kopfschmuck ausgerüstet.
Schroffe, die Spielfläche eingrenzende Felswände imaginieren allerdings auch Schauplätze zu Lande, wo sich Hirten und Waldgeister tummeln. Man darf sich die Geschichte also durchaus als amphibisches Geschehen vorstellen. Getanzt wird überall und allezeit – oft nach den Regeln der Barockoper, die der choreografische Spezialist Bruno Benne dem Kieler Ballett beigebracht hat. Das ist unterhaltsam und überbrückt in seiner ausgiebig zelebrierten Kurzweil manche Längen im Fortgang der Handlung. Das Regieteam lädt sie überdies auf mit allerhand symbolischen Verweisen, am deutlichsten mit der übergroßen Darstellung des Uterus etwa als Zeichen der Leben spendenden und verschlingenden Schöpfung.
Der Tiefe der Bedeutungen entspricht die Ernsthaftigkeit der Gefühle, in denen die Hauptfiguren gefangen sind. Skylla fürchtet die Leiden der Liebe und weist darum die Avancen des Meeresgottes Glaukos ab. Der bittet darum die Zauberin Circe um Rat und Hilfe. Die jedoch entbrennt selbst in heißer Zuneigung zu dem Ratsucher und entwickelt Neid und Eifersucht gegen die Rivalin. Der verderbliche Konflikt der Liebenden ist gezündet und endet tragisch, denn Circe rächt sich furchtbar und verwandelt Skylla in ein Ungeheuer und später in jene sagenhafte, gefährliche Felsklippe, die zusammen mit dem Strudel Charybdis auf ewig einen Schrecken der Meere bildet.
Ein Mann zwischen zwei Frauen – diese Konstellation spiegelt sich in den Sängerleistungen. Denn Mercedes Arcuri stattet die Figur der Skylla mit mühelos strahlenden Höhen und schönen Kantilenen aus, während Tatia Jibladze als ihre Gegenspielerin Circe energische, dramatisch kraftvolle Akzente einbringt. Dazwischen hat der dänische Tenor Valdemar Villadsen im Fach des Haute-Contre Mühe, der Partie des Glaukos über die Innigkeit des Gefühls hinaus wirklich hörbare Stärke und Durchsetzungskraft entgegenzusetzen. Die beiden jungen Sopranistinnen Karola Sophia Schmidt (Amor/Témire) und Marie Sophie Richter (Venus/Dorine) verleihen ihren Rollen markanten Ausdruck, ebenso wie Matteo Maria Ferretti mit knappen Bariton-Partien. Dazu gesellen sich etliche Chorsolisten in zuverlässig gestalteten Nebenfiguren.
Die Kieler Oper darf sich des Verdienstes rühmen, einen verborgenen Schatz fürs Repertoire gewonnen zu haben. Sie setzt die seit etlichen Jahren gepflegte Tradition der Barockopern an diesem Hause fort und befriedigt dank einer souveränen und lebendigen musikalischen Ausführung und einer szenisch fantasievollen Aufführung allgemeines Interesse, wie der herzliche Premierenapplaus bestätigte. Den Spezialisten des Genres bietet sie ein edles, veritables Fundstück.
Infos und Termine: www.theater-kiel.de
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