Siegfried Bühr zeigt eine milde Version von Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ im Kieler Schauspiel

Von Christoph Munk

Kiel. Der Junge will einen Keks. Dabei sollte der Sechsjährige jetzt schlafen, aber er quengelt. Also wird nichts aus dem ruhigen Abend bei Sonja und Henri. Und es kommt noch schlimmer. Es klingelt und die Finidoris stehen vor der Tür, Hubert und Ines, einen Tag früher als erwartet. Nichts ist für die Gäste vorbereitet, aber nun sind sie da. Also ist eines jener Beziehungskonstrukte komplett, in die Yasmina Reza so gern das Personal ihrer Stücke zwingt. Diesmal führt sie den doppelten Paarlauf in drei Varianten vor: „Drei Mal Leben“. Ein Experiment, das Siegfried Bühr in seiner Inszenierung für das Kieler Schauspiel nicht aus nüchterner Distanz vollzieht, sondern sich mit bemerkenswerter Sympathie den Menschen in diesem Quartett nähert.

Konversation über Abgründen von Konflikten: (v.l.) Imanuel Humm, Yvonne Ruprecht, Agnes Richter und Zacharias Preen. (Foto: Olaf Struck)

Von Beginn an setzt Bühr auf Komik. Er dehnt mit wunderbarem Timing den Dialog zwischen Henri und Sonja so in die Länge, dass sich jeder lapidare Wortbrocken zur Pointe spitzt. Dabei geht es hier schon um alles oder nichts. Denn in dem nichtigen Streit darüber, ob der Junge nach dem Zähneputzen noch einen Keks bekommt, steckt mehr: die Auseinandersetzung um Erziehungsprinzipien, in die sich den ganzen Abend über auch die Gäste mischen. Tiefer gefragt: Wie nah rückt das Kompetenzgerangel eine labile, weil ungleichgewichtige Ehe an den Rand ihrer Zerrüttung? Humor über doppeltem Boden.

Doch das wirklich dicke Problem kommt erst: Henri hat als Astrophysiker zwei Jahre nichts veröffentlicht und steht vor der Vollendung einer, so hofft er, bahnbrechenden Arbeit. Hubert hingegen ist in der gleichen Wissenschaft hochrangiger, weit erfolgreicher und könnte Henri unterstützen. Er tut es nicht, sondern stürzt ihn mit der Mitteilung, ein Konkurrent habe ihm das Thema geklaut, in eine Existenzkrise. In locker bis verlegen geführter Konversation wird also beständig um Statusfragen verhandelt. Auch unter den Frauen, denn Sonja ist eine angesehene Anwältin, Ines hingegen macht „nichts. Das heißt alles mögliche…“ Bis zum Rundumschlag „Jeder gegen Jeden“ dauert es nicht lange. Abbruch nach regem Schlagabtausch in der ersten Runde.

Dann jedoch: Variante zwei: Im selben Bühnenbild – karges Wohnzimmer auf Präsentierteller (Siegfried Bühr mit Katrin Buschig) – die gleiche Situation, der gleiche Text, nun verkürzt, verdichtet. Doch der Ton ändert sich. Am auffälligsten bei Henri. Nun kriecht er nicht mehr, nun begehrt er auf, nun gerät er in einen „Rausch der Sinnesänderung“. Das zeigt Folgen bei den Gesprächspartnern. Hubert lässt die Maske der Überheblichkeit fallen und gerät in Rage. Sonja löst sich aus dem Muster ihres eher herben Charmes und Ines beginnt so etwas wie ein Trip in die Selbstbehauptung. Die dritte Variante – Dialoge und Abläufe noch mehr komprimiert – offenbart wieder neue Farben in den Tönen, Haltungen und Stimmungen. Und da waltet Bührs Regie mit Verständnis und Gnade: aufkeimendes Verständnis statt purer Konfrontation, Melancholie statt Depression, beinahe Friede. Erlösung wäre zu viel gesagt.

Szenen einer labilen Ehe: Agnes Richter und Zacharias Preen. (Foto: Olaf Struck)

Zumindest herrscht mildes Klima. Denn der Regisseur geht klug mit den Möglichkeiten der Kieler Schauspieler um. Statt hochfein geschliffener Präzision entlockt er ihnen ein respektables Spektrum an Kontrasten. So befreit Zacharias Preen seinen Henri allmählich in Stimmführung und Gestik aus dem Modus steif gepresster Unterwürfigkeit. Imanuel Humms Hubert lässt sich bemerkenswert offen aus dem Revier nöliger Arroganz locken. Yvonne Ruprecht entdeckt in Ines weit mehr als ein aufgedrehtes, nervtötendes Weibchen. Und Agnes Richter, unbeirrt von allen Veränderungen innig und wahrhaftig im Spiel, gibt ihre Sonja als Ruhepol im Tumult, als Gerüst, als, ja doch: guten Geist.

Keine Katastrophe am Ende, keine ätzende Entlarvung von Lebenslügen, kein finaler Abriss der glänzenden Mittelstandsfassaden? Und das bei Yasmina Reza? Stattdessen: „Danke für diesen schönen Abend“. Und einvernehmliches „Auf Wiedersehen“. Ja, so steht’s im Text. Selbst der Junge schläft. Und Siegfried Bühr setzt ein letztes, schnelles Bild ans Ende: Henri auf der Treppe dem Besuch hinterher. Um ihn zurück zu holen? Für eine weitere, womöglich harmonische Variante? Zuviel der Versöhnung. Aber: freundlicher Premierenbeifall.

Info und Termine: www.theater-kiel.de