Von Hannes Hansen

Vorbemerkung
Wieder einmal bin ich, wie im vorigen Jahr, eine längere Zeit mit meinem VW-Bus unterwegs. Wohin? So genau weiß ich das selbst nicht. Ich lasse mich treiben, fahre zunächst  einmal nur ein paar Kilometer ins Lauenburgische, dann soll es weiter gehen, an die deutsch-polnische Grenze nach Altwarp, hinüber nach Polen, zurück, die Oder entlang nach Süden. Vielleicht die Elbe nach Norden wieder hinauf? Wir werden sehen. Und berichten kann ich nur, wenn ich irgendwo eine WLAN-Verbindung finde: O2 und Hotspot, das funktioniert an der polnischen Grenze nicht. Also gibt es Verspätungen. ’tschuldigung.

Von Enten, die Fische, und Mücken, die Vögel sind – An der Stecknitz im Lauenburgischen

Die Stecknitz – Pissrinne von europäischer Bedeutung
Foto: Hannes Hansen

An diesem schönen Junitag, an dem die Sonne vom Himmel scheint, als werde sie dafür bezahlt, fahre ich mit meinem Campingbus auf der Bundesstraße 404 nach Süden, verlasse sie bei Schwarzenbek und überquere auf meiner weiteren Bummelfahrt nach Osten bei Dalldorf den Elbe-Lübeck-Kanal und dann ein winziges Flüsschen, die Stecknitz, die sich gemächlich durch die topfebene Landschaft zieht. Auf einem Parkplatz in ihrer Nähe halte ich an, verlasse den Bulli und gehe ein paar Schritte zurück. Am Ufer der Stecknitz sitzt auf einem Campingstuhl ein Angler und sieht, um mit Goethe zu sprechen, „nach dem Angel ruhevoll, kühl bis ans Herz hinan“. Kein wilder Wassermann, keine Nixe will erscheinen, um ihn in die ohnehin nur knapp einen halben Meter betragende Tiefe – „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ – zu locken. Als er mich erblickt, holt er die Angelschnur ein, deutet auf den leeren Eimer an seiner Seite, dann auf den wolkenlosen Himmel, von dem die Sonne brennt, und sagt aufseufzend: „Hat heute keinen Zweck.“

Stecknitz oder Delvenau? Jedenfalls von europäischer Bedeutung
Foto: Hannes Hansen

Meine Zufallsbekanntschaft erweist sich als ganz und gar untypischer Vertreter der Angelfreunde, einer Spezies Mensch, die, wenn sie nicht gerade mit der Größe ihrer Fänge renommiert, die proportional mit der Menge der genossenen geistigen Getränke zunimmt, als so stumm wie ihre Beute gilt. Mein Angler entpuppt sich als Heimatforscher und gibt mit Eifer und glühendem Lokalpatriotismus Auskunft über die Besonderheit und einstige europaweite Bedeutung des unscheinbaren Flüsschens. Schon im Mittelalter streckenweise begradigt, erzählt er, diente die „Stecknitzfahrt“ dem Transport des begehrten Salzes aus den Lüneburger Salinen über Landstraßen, die Elbe und ab der heute noch erhaltenen „Palmschleuse“ in Lauenburg über die auch Delvenau genannte Stecknitz nach Lübeck. Mein Heimatforscher erklärt mir sogar, wieso, warum und wo die Namen wechseln, aber das habe ich vergessen. Mir ist nicht klar, warum solch eine Pissrinne gleich zwei Namen tragen muss, doch das sage ich dem Lokalpatrioten nicht.

Die so genannten „Schonenfahrer“, die in der Lübecker Marienkirche eine reich ausgestattete Pfründe mit einem eigenen Altar in einer Seitenkapelle unterhielten, brauchten das Salz, um die Unmengen von Heringen haltbar zu machen, die sie vor dem schwedischen Schonen fingen, erfahre ich. Von Lübeck aus gingen die eingesalzenen Heringe wie die norwegischen Stock- und Klippfische ins Binnenland und in die Länder Südeuropas, wo sie zur Fastenzeit, in der die Kirche den Verzehr von Fleisch verboten hatte, den Speisezettel bereicherten, weil Fische ja bekanntlich kein Fleisch sind.

„Und wissen Sie was“, erzählt mir mein neuer Bekannter schmunzelnd, „auch Enten, Gänse, Schwäne und sogar Biber waren eine zulässige Fastenspeise.“ Was auf oder im Wasser schwamm, galt nach mittelalterlichem Verständnis als „Fisch“, was sich auf dem Lande laufend, hüpfend oder watschelnd fortbewegte, als „Vieh“ und Fleischlieferant. Was schließlich an Getier flügelschlagend die Luft als Verkehrsweg bevorzugte, ob nun ein Vogel im heutigen Sinne, ob eine Fledermaus oder ein Schmetterling, – der ja im Plattdeutschen „Bottervogel“ und im Englischen „Butterfly“ heißt – war ein „fugol“. Da hätte man nun meinen sollen, explizierte mein spitzfindiger Gesprächspartner weiter, dass die hohe Geistlichkeit, die für solche Fragen zuständig war oder sich zur Entscheidungsfindung berufen fühle, bei der Einordnung besagter Enten, Gänse und Schwäne in die fragliche Kategorie – Fisch  oder Vogel? – in die Bredouille geriet. Doch die hohen Herren entschieden sich souverän für eine gewisse Praxisnähe und dekretierten nutzenorientiert, auf dem Wasser schwimmende Vögel seien Fische.

Für den Lübecker Heringshandel bedeutete solche Kasuistik aber keine Konkurrenz, weiß mein Gewährsmann weiter zu berichten. Er bildete die ökonomische Grundlage für den sich schnell entwickelnden europaweiten Im- und Exporthandel der Lübecker Großkaufleute mit Holz und Pelzen aus Russland und Norwegen, Getreide aus dem Baltikum, Wein aus Frankreich, feinen Wollstoffen aus Flandern und anderen Luxusartikeln, die ihren Weg bis an den Zarenhof fanden. Die daraus resultierende wirtschaftliche und politische Vormachtstellung Lübecks sicherte der Freien Reichstadt die Position als allseits anerkannter Hauptort und „Königin“ der Hanse, des mächtigsten nordeuropäischen Städtebunds des Mittelalters.

Mit der Lübecker Herrlichkeit ging es zu Ende, als gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die Riesenheringsschwärme vor Schonen aus unerklärlichen Gründen plötzlich ausblieben und sich neue Laichgründe suchten. Ein Übriges für den Niedergang der Hanse und Lübecks, erzählt mir mein auskunftfreudiger neuer Freund mit nun tragisch umwölkter Miene und viel Leid in der Stimme, habe der sich nach der Entdeckung Amerikas entwickelnde Transatlantikhandel getan. Er erschloss neue Verkehrswege und machte die Augsburger Familie der Fugger, bei denen sogar der Kaiser in der Kreide stand, steinreich. Die Hanse versäumte es, sich in das neue Geschäft einzuklinken, und ihre altmodische Organisationsform konnte den ihr zunehmend auch im Ostseehandel erfolgreichen „Merchant Adventurers“ aus England mit ihrem aktienbasierten Geschäftsmodell nichts entgegen setzen.

Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit von Heringshandel und Hanse verfiel auch die Stecknitzfahrt. In der Nicolaikirche in Mölln, wo sich die Stecknitz zu einem schmalen Rinnensee der letzten Vereisung Norddeutschlands erweitert, erinnern, weiß mein Anglerbekannter, noch die Wappen und das Gestühl der Stecknitzfahrer an ihre große Zeit.

Schleuse am Elbe-Lübeck-Kanal bei Witzeetze
Foto: Hannes Hansen

Ich kennte Ort, Kirche, Wappen und Gestühl von einem früheren Besuch her, sage ich wahrheitsgemäß, und deshalb schickt mich mein nun enttäuscht aussehender Gewährsmann an die nahe Schleuse des Elbe-Lübeck-Kanals bei dem Örtchen Witzeeze. Auf der östlichen Seite der Wasserstraße, die seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Elbe bei Lauenburg über die Trave mit der Ostsee bei Lübeck verbindet, seien noch ein Teilstück der Stecknitzfahrt, das Schleusenwärterhaus und eine verfallende Schleuse erhalten. Die solle ich mir einmal ansehen, und weil ich nicht den Mut habe, dem nun wieder vor Begeisterung glühenden Mann erneut eine Absage zu erteilen, fahre ich zur Brücke der Witzeezer Schleuse, wo auf der westlichen Seite des Kanals gerade eine vielköpfige Gesellschaft auf dem kleinen Rastplatz direkt am Kanal eine Hochzeit feiert.

Auch schon mehr als 200 Jahre alt – Das Schleusenwärterhaus an der Dückerschleuse
Foto: Hannes Hansen

Von der schmalen Straße auf der anderen Seite, an der nur ein paar Häuser und ein Campingplatz liegen, geht ein Sandweg ab. Ein Holzschild weist auf das „Technikdenkmal Dückerschleuse“ hin. Ich gehe  auf dem Trampelpfad durch sumpfiges Gelände zu dem Wunderwerk mittelalterlicher Wasserbaukunst, das einen reichlich ruinösen Eindruck macht. Für den Laien ist trotz imposanter Balken und Steinpackungen nicht mehr viel zu erkennen und ich frage mich, ob der Anblick den Angriff der gewaltigen Mückenschwärme aufwiegt, die hier einen für ihre Zwecke überaus geeigneten Ort gefunden haben. Weil ich die Frage ehrlicher Weise mit „Nein“ beantworten muss, mache ich mich fluchtartig auf den Rückweg und werfe auch nur ganz kurz einen Blick auf das ehemalige Schleusenwärterhaus aus dem achtzehnten Jahrhundert. Jetzt wieder hergerichtet und bewohnt liegt es unter hohen Bäumen wie ein verwunschenes Hexenhaus.

Angenagt vom Zahn der Zeit
Foto: Hannes Hansen

Die vom Zahn der Zeit reichlich angenagte Scheune wartet dagegen noch auf bessere Zeiten. Das ein wenig verwildert wirkende Grundstück, vor dessen Betreten ein Verbotsschild warnt, wird von zwei Löwenskulpturen bewacht, wie sie vor jedem zweiten Chinarestaurant ihre Zähne blecken. Der Sinn des inkongruenten Bildes erschließt sich mir nicht, aber ich muss ja auch nicht alles verstehen.

Pferd oder Zebra?
Foto: Hannes Hansen

Es hat angefangen zu regnen und ich gehe zurück zu meinem VW-Bus. Dass auf der Weide neben meinem temporären Parkplatz ein Pferd so etwas wie einen Regenumhang trägt, der aus ihm ein Zebra macht, erregt aufs Neue meine Verwunderung und ich muss erkennen, dass der Liebe Gott oder auch mein Anglerfreund von der Stecknitz vor der Erweiterung meiner historischen Kenntnisse offene Fragen, Mühsal, Plagen und Schmerzen gesetzt haben.

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