Ein sinnloser Tunnel und ein ehemaliger Bahnhof – In Schwanheide

Von Hannes Hansen

Denkmal, Menhir, Schubberstein?
Foto:Hah

Ins mecklenburgische Schwanheide geht es von Witzeeze im südöstlichen Schleswig-Holstein über allerlei Nebenstraßen vorbei an Äckern und Weiden, auf denen schwarzweiß gefleckte Rinder im Schatten einzelner Bäume dösen. Nur die mahlenden Wiederkäuerbewegungen ihrer Kiefer verraten, dass Leben in ihnen ist. Im Örtchen Zweedorf, kur vor der Grenze nach Meckpom, kratze ich mir verblüfft den Kopf. Der wie aus einem Märchenbuch in die Wirklichkeit gestolperte Dorfanger liegt unter hohem alten Baumbestand schweigend und würdevoll da. Rund um eine wohl an die zweihundert Jahre alte Eiche, haben sich sechs halbmannshohe, grob behauene schlanke Granitsteine versammelt, die einerseits wie keltische Menhire wirken, zum anderen aber ganz profan wohl einst dem lieben Vieh auf der Weide zum Scheuern gedient haben könnten. Ein siebenter größerer Stein wacht über sie wie eine Henne über ihr Küken. Er trägt die flach und nur schwer erkennbar eingeschlagenen Zahlen 1812 und 1912. Jahreszahlen wohl.

Ja, und nun möchten Sie wissen, was das alles zu bedeuten hat? Das möchte ich auch. Weil aber kein Laut die Mittagsruhe stört und das Dorf wie ausgestorben wirkt, kann ich keinen Einheimischen nach dem Sinn des Steinkreises und der Jahreszahlen fragen.

Von Reibach und ordnungsgemäßer Verwaltung

Weiter also nach Schwanheide. Am Bahnhof des einstigen Zonengrenzübergangs unterquert die wenig befahrene Straße die gerade einmal zweigleisige Bahnstrecke in einem Tunnel, der sich wohl den nach dem Gießkannenprinzip verteilten Mitteln des Programms „Aufbau Ost“ verdankt. Das für das kleine Kaff eigentlich unnötige Bauwerk  ist eine der typischen Eulenspiegeleien einer bräsigen Verwaltung, die nach dem Prinzip handelte, dass mit vollen Hosen gut stinken sei. Sie und naturgemäß auftragsgierige Firmen gingen in schönster Verbundenheit mit dem Totschlagargument, Arbeitsplätze zu erhalten oder zu schaffen, hausieren und verbrieten nach Lust und Laune die begrenzten Summen, die für sinnvollere Projekte hätten eingesetzt werden sollen. Dass von den versprochenen Arbeitsplätzen nach dem Bau der Schwanheider Unterführung und ähnlicher Projekte nicht mehr viel zu sehen war, brauchte die Beteiligten an solchen Unsinnsvorhaben nicht zu kümmern. Die Firmen hatten ihren Reibach gemacht und die Verwaltung diesen Reibach ordnungsgemäß verbucht und abgerechnet.

„So funktioniert der Kapitalismus eben“, sagt einer der erst nach der Wende geborenen jungen Männer, die auf dem mit schütterem Gras bewachsenen Vorplatz des menschenleeren Bahnhofs bewundernd um ein Motorrad stehen, das sich einer von ihnen gekauft hat, und über PS-Zahlen und Höchstgeschwindigkeit fachsimpeln. Nach dem real existierenden Sozialismus Marke DDR aber – einem Begriff, der ihnen nichts sagt – und nach dem Staat ihrer Eltern zeigen die jungen Leute kein Verlangen. In die neuen Verhältnisse hinein geboren, haben sie sich ihnen pragmatisch angepasst. Zwei von ihnen arbeiten im nahen Boizenburg, einer in Lauenburg und einer fährt jeden Tag ins etwa fünfzig Kilometer entfernte Hamburg zur Arbeit als Zimmermann. „Was soll man machen“, sagt er, „die Mieten in Hamburg sind mir zu hoch.“ Irgendwann werde es auch hier in Schwanheide und in der Umgebung aufwärts gehen, gibt er sich optimistisch. So lange und bis er seinen Meister gemacht habe, wohne er bei seinen Eltern, einem Bauernehepaar. Die hätten die Äcker und Wiesen verpachtet und nur das Hoffeld mit dem geräumigen alten Bauernhaus behalten. „Wenn sie hier weiterfahren“, sagt er und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger die Richtung an, „sehen Sie ein Fachwerkhaus. Sie erkennen es gleich an den beiden Pferdeköpfen am Giebel. Das ist es.“ In drei, in vier oder fünf Jahren werde er auf dem elterlichen Grundstück ein Haus bauen und eine eigene Werkstatt einrichten. „Hier gibt es für einen Zimmermann noch viel zu tun“, ist er sich sicher. „Vor allem im Amt Neuhaus.“ Warum gerade da, will ich wissen.

„Neuhaus“, sagt der junge Mann und grinst, „liegt zwar auf der rechten Seite der Elbe und war Teil der DDR, gehörte vor dem Krieg aber zu Niedersachsen und kam nach der Wende auch wieder zum Kreis Lüneburg. Und deshalb gab es auch nichts aus dem ‚Aufbau Ost’. Irgendwann muss hier überall kräftig renoviert werden. Das wissen die in Lüneburg auch.“

Verlassen und vergessen

Sic transit gloria mundi – Verlassen, verloren. Vergessen? (Foto: Hannes Hansen)

Ich verabschiede mich fürs erste von der Gruppe der jungen Männer und gehe die wenigen Schritte zum ehemaligen Bahnhofsgebäude. Bis zur deutschen Wiedervereinigung herrschte hier, am DDR-seitigen Bahnhof der Grenzverbindung Büchen-Schwanheide  erheblich mehr Betrieb. Für ein heute vergessenes und kaum noch vorstellbares, von staatlicher Paranoia geprägtes Kontrollsystem sorgten die Grenztruppen der DDR. Uniformierte Beamte, die kleine Holzkistchen vor den im Regelfall geschlechtsneutral recht stattlichen Bäuchen trugen, musterten mit strengem Blick die Reisenden. Auf waagerecht heruntergeklappter Seitenwand dieser Kistchen stempelten sie die Pässe, Ein- und Ausreisebewilligungen verschüchterter DDR-Rentner und sich gleichmütig gebender Bundesbürger. War alles in Ordnung, durfte man weiterreisen, bei Unklarheiten hieß es, den Beamten zum hochnotpeinlichen Verhör in den für den kleinen Ort scheinbar überdimensionierten, aber für die „Sicherheit“ der DDR nötigen Plattenbau zu folgen, in dem die Grenztruppen und ihre Büros untergebracht waren. Während der Kontrollen herrschte bedrücktes Schweigen, das die sachlichen, gleichwohl autoritär klingenden und meist im sächsischen Tonfall und in gleichmäßigem Takt vorgetragenen Fragen und Anweisungen – „Machen sie mal das rechte Ohr frei!“ – punktierten.

Sachsen bildeten mit etwa sechzig Prozent der Bevölkerung den Großteil des sogenannten Staatsvolks der DDR. Grenztruppen und Beamte der Volkspolizei wurden gerne weit außerhalb ihres Heimatgebiets eingesetzt, damit sie sich nicht mit den Einheimischen gemein machten und wohlmöglich insgeheim solidarisierten. So kam es dann, dass man schon allein wegen der numerischen Überlegenheit der Sachsen in Rostock etwa kaum einmal einem mecklenburgischen, in Potsdam keinem brandenburgischen Polizisten bei etwaigen notwendig gewordenen Auskünften begegnete, sondern meist eben den aufgrund ihres Dialekts unverkennbaren Sachsen, die dann auch prompt hinter vorgehaltener Hand als „fünfte Besatzungsmacht“ verspottet wurden.

Persönliches – eine Abschweifung

Ich kann mich erinnern, wie ich vor vielen Jahren einmal vor einer roten Ampel auf einer Straße meiner Heimatstadt Potsdam hielt. Ein Polizist klopfte an die Seitenscheibe meines Autos. Ich drehte die Scheibe herunter und fragte höflich nach seinem Begehr. Er deutete auf den grünen Pfeil neben den Lichtern der Ampel, der heute als eine der wenigen DDR-Errungenschaften bundesrepublikanisches Gemeingut geworden ist, und sagte: „Nu, sähn se denn nich den grünen Pfeil. Da gönn se doch fahrn.“ Ich schaute ihn verdattert an und stotterte etwas herum. Er sagte begütigend: „Nu, als Ausländer gönn se das ja auch nich wissen.“ Trotz seiner Freundlichkeit stieg in mir die Wut hoch. Wie kam dieser hergelaufene Sachse dazu, mich in meiner Heimatstadt, die ich freilich vor langer Zeit verlassen hatte, als Ausländer zu titulieren. Am liebsten hätte ich seine zwar lediglich unbedachten, von mir jedoch als verletzend empfundenen Worte mit einer harschen Entgegnung des Inhalts erwidert, er solle sich in seine sächsische Heimat scheren und dort seinesgleichen drangsalieren, einem stolzen Brandenburger und Preußen, als welchen ich mich paradoxer Weise in diesem Augenblick empfand, aber Respekt zollen. In all meiner Aufgebrachtheit besaß ich freilich noch genügend gesunden Menschenverstand, meinen Mund zu halten, um mich nicht den im Falle momentaner Geistesverwirrung unweigerlich folgenden Maßnahmen einer Staatsmacht auszuliefern, die auf Beleidigungen ihrer Repräsentanten, zumal durch bundesrepublikanische Staatsfeinde, nicht eben mit republikanischem Gleichmut reagierte. Als ich ein paar Minuten später, immer noch wutschnaubend, meiner Großmutter den Vorfall schilderte, sagte sie beschwichtigend: „Det is nu mal so. Mit den Brüdern musste dich jar nich erst inlassen.“

Heute, nach den ethnisch und religiös motivierten Morden und Vertreibungen auf dem Balkan, im Irak, in Syrien, im Kongo oder sonst wo auf der Welt, bei denen ganz andere „Brüder“ wüteten und wüten, nach den Völkermorden des islamischen Staats und der serbischen Soldateska der Herren Karadzic, Mladic und Co will mir mein damaliger Zorn geradezu lächerlich vorkommen.

Verlassen und vergessen, zweiter Teil

Sic transit gloria mundi – Verlassen, verloren. Vergessen? (Foto: Hannes Hansen)

SchwanheideIn Schwanheide nun löste die Staatsmacht in Form ihrer uniformierten Grenzbewacher wenn nicht Angst und Schrecken, so doch eine gewisse Beklommenheit aus. Erst wenn der Zug die Grenze zur Bundesrepublik überquert hatte, entspannten sich die Mienen der Reisenden und wich das Schweigen erregten Reden. Dankbarkeit, die gelegentlich unterwürfige Züge annahm, zeigte sich auf den Gesichtern der DDR-Rentner, die beglückt aus den Händen freundlicher Rote-Kreuz-Helfer den angebotenen Kaffee und vor allem die so lang entbehrten, sehnsüchtig erwarteten Bananen entgegen nahmen. Nur selten lehnte ein „Berechtigter“ würdevoll die Liebesgaben ab. Wir Bundesrepublikaner bekamen nichts, allenfalls einmal einen Kaffee, wenn denn welcher übrig war. Bei der Rück- respektive der Einreise in die DDR lockerte sich die Atmosphäre langsamer und wurden die Gespräche erst allmählich munterer.

Das mehrstöckige Gebäude, in dem die Grenztruppen und ihre Büros untergebracht waren, existiert immer noch und gammelt mit eingeschlagenen oder verbretterten Fenstern vor sich hin. Eigentlich sollte es einmal zu einem Hotel umgebaut werden, weiß einer der um das Moorrad versammelten jungen Leute. „Nein, nicht Hotell“, widerspricht ihm ein anderer, Bordell.“ Alle lachen. Wer soll auch in einem Hotel an einer Bahnstrecke übernachten wollen.

Vom einstigen Bahnhofsgebäude sind auch die letzten Buchstaben, die seine Funktion verkündeten, verschwunden. Jetzt ist aus dem Backsteinbau aus Vorkriegszeiten ein Wohnhaus geworden. An die Grenztruppen können sich die jungen Leut nicht erinnern. „Die sind schon lange weg“, sagt der angehende Zimmerermeister. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass die Leute im Ort mit denen nichts zu tun haben wollten. Die blieben unter sich.“

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