Theater ums Theater, ein Flugpionier und gotische Fresken – In Anklam

Von Hannes Hansen

Der junge Wilde

Regen, Wolkenbruch, Regen. Halb Berlin, heißt es im Radio, steht unter Wasser. Zwischendurch behauptet die Sonne, sie sei auch noch da. Zum Beispiel im vorpommerschen Anklam.
Was weiß ich von Anklam? Nun, in den siebziger Jahren wirkte da ein junger Regisseur, der die Theaterszene der DDR mit wilder, frischer Inszenierungskunst gehörig aufmischte. Weder vor den deutschen Klassikern noch gar vor den Säulenheiligen des Sozialismus zeigte dieser Frank Castorf übertriebenen Respekt. Und deshalb schob man ihn auch ab, ganz weit weg von den Zentren der DDR-Kultur. Da könne er sich austoben, dachte man, das würde schon keiner merken, dort in der Provinz nahe der polnischen Grenze.
Doch es kam anders. Die Jungen, die Nicht-Etablierten, die Aufmüpfigen pilgerten in Scharen nach Anklam, um sich den frischen Wind einer mit Ironie, Sarkasmus und Wut gewürzten Theaterluft um die Nase wehen zu lassen. Prompt durfte der junge Wilden dann auch in den Westen ziehen, nachdem man ihm die weitere Arbeit in Anklam unmöglich gemacht hatte. Dort wurde er schon bald zum Intendanten der Berliner Volksbühne ernannt, wo er in gewohnter Weise seine Arbeit als Mythenzertrümmerer und Bürgerschreck fortsetzte. Bis es dem Berliner Senat in diesem Jahr zuviel wurde und man ihn rausschmiss aus „seinem“ Theater. Wie sich die Bilder gleichen.

Ein Flugpionier und die sinnlose Zerstörung einer Stadt

Flugpionier Otto Lilienthal
Foto: HaH nach einerFotografie in der Anklamer Marienkirche

Lange vorbei, sagen die beiden freundlichen älteren Herren, die in der nicht mehr dem Gottesdienst dienenden Nikolaikirche am zentralen Marktplatz die Außenstelle des Otto-Lilienthal-Museums betreuen. Damals, ja damals, sagen sie und können ein diebisches Grinsen nicht verbergen, da ging es hier hoch her. Doch heute sei man gesitteter an der Vorpommerschen Landesbühne Anklam, als die Frank Castorfs alter Experientierplatz heute firmiert.

Im Augenblick ist in der Nikolaikirche eine Fotoausstellung mit zeitgenössischen, in nostalgischen Sepiatönen gehaltenen Aufnahmen zu sehen, auf denen der tollkühne Pionier der Luftfahrt und große Sohn der Stadt Otto Lilienthal seine selbst gebauten Flugapparate ausprobiert. Seine Gleitflüge waren kaum mehr als ausgedehnte Hopser, aber im Verein mit seinen physikalischen Experimenten und Berechnungen schufen sie die Grundlagen, auf denen die Gebrüder Wright den ersten Motorflug der Geschichte unternahmen. Und deshalb hängen unter der Decke der im zweiten Weltkrieg ziemlich zerdepperten Nikolaikirche denn auch ein Lilienthalscher Flugapparat und eine Wrightsche Flugmaschine einträchtig neben- respektive übereinander. Der eine stürzte ab und starb, die anderen – typisch Amerikaner – machten Kohle. So geht’s zu auf der Welt.

Gleit- und Motorflieger – Otto Lilienthal und Wilbur Wright
Foto: HaH

Und noch mehr erfahre ich von den beiden Herren, die sich als veritable Kenner der Geschichte der alten Hansestadt Anklam erweisen. Von der Schwedenzeit im und nach dem Dreißigjährigen Krieg erzählen sie, von Stadtbränden, mittelalterlicher Judenverfolgungen und anderen unschönen Dingen. Und davon, dass im zweiten Weltkrieg die Altstadt mit ihrem ehrwürdigen Baubestand aus vielen Jahrhunderten zu über achtzig Prozent zerstört wurde. Und zwar überwiegend in den letzten Kriegstagen, als sich der oberste Kriegsherr per Selbstmord schon davon gemacht hatte. Das geschah pikanter Weise durch ein Bombardement der deutschen Luftwaffe. So wollten die strammen Vaterlandsverteidiger noch im letzten Moment die Rote Armee, die die Stadt schon besetzt hatte, aufhalten. Und dabei ging eben so allerlei kaputt. Unter anderem große Teile der Nikolaikirche.

Zarte Farben – die Anmut gotischer Malerei

Zarte Poesie der Farbe – Fresko in der Marienkirhce
Foto:Hah

Von all dem weiß der junge Mann, der im Eingangsbereich der Marienkirche am Pferdemarkt sitzt, den (wenigen) Besuchern Prospekte in die Hand drückt und ab und zu ein paar Postkarten verkauft, nichts. Wie viele Menschen denn zu den Gottesdiensten kämen, will ich wissen. Weiß er auch nicht, ist ja nur ein Job hier, und Religion, nee, damit er nichts am Hut. Gerade einmal, dass die wundervollen Fresken, die die Pfeiler der im dreizehnten bis fünfzehnten Jahrhundert erbauten Hallenkirche zieren, irgendwann einmal restauriert wurden, kann er berichten: „Hat der Westen bezahlt.“

Schon allein wegen dieser Fresken lohnt sich der Halt in Anklam. In wunderbar zarten Farben zeigen sie die ganze Anmut gotischer Malerei. Selbst der Gekreuzigte – ein Leidender, nicht mehr wie in der romanischen Kunst der triumphierende Weltherrscher – zeigt noch Spuren dieser Anmut.

Anmut noch im Tod – Fresko in der Marienkirhce
Foto:Hah

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