Katrin Lindner eröffnet die Spielzeit im Kieler Schauspiel mit Henrik Ibsens „Die Wildente“
Von Christoph Munk
Kiel. Imposant und sauber aus Holz gefügt ragt die weiße Fassade in den Himmel. Doch der großartige Bau, das Haus von Konsul Werle, dreht sich und zeigt seine dunkle, verworrene Seite. Dort haust die Familie Ekdal – in kleineren, höchstens auskömmlichen Verhältnissen. Die sozialen Kontraste also sind unübersehbar, aber Alexander Wolfs raffinierte Raumerfindung auf der Bühne des Kieler Schauspielhauses offenbart ebenso deutlich, wie untrennbar die Familien Werle und Ekdal in Henrik Ibsens Schauspiel „Die Wildente“ verbunden sind. Sie sind, so will es Katrin Lindners Inszenierung, in eine ausweglos tödliche Tragödie getrieben.
Schlimme Ahnungen durchziehen das Spiel von Beginn an. Denn die Stimme eines Mädchen schwirrt unablässig ums Haus und scheint sirenenhaft, klagend, und sehnsuchtsvoll von fernen Träumen und nahem Unheil zu künden. Nurit Hirschfeld gibt mit dem eigentümlichen Singsang der jungen Hedwig eine drängende und doch flüchtige Allgegenwart. Um sie herum wird ein höchst reservierter Konversationston gepflegt. Jeder scheint seine Worte unter Vorbehalt zu stellen, keiner agiert mit offenem Visier. Eindeutiger Schlagabtausch erst später.
Selbst Gregers Werle handelt nach dieser Devise. Dabei verfolgt er die radikalsten Absichten. Doch Oliver E. Schönfeld gibt den Wahrheitsfanatiker als feisten Psycho-Kurpfuscher, als einen windelweichen, salbadernden Quacksalber in Sachen Seelenklempnerei, der erst langsam Witterung aufnimmt und vorsichtig die Örtlichkeit und seine Opfer ausspäht, bevor er zuschlägt und seinem Freund Hjalmar Ekdal die angeblich wahren Verhältnisse offenbart: die Vergangenheit seiner Ehefrau Gina, die Abstammung seines Kindes.
Er wird leichtes Spiel haben. Denn Felix Zimmer entzieht dem taumelnden Weichei Hjalmar von Beginn an Mark und Bein. In ihm wächst kein Widerstand, denn er scheint lange nicht zu ahnen, was ihm blüht. Zimmer lässt nur harmlose Genügsamkeit erkennen und eine laue Neigung zu kleinen Fluchten: eingebildetes Jagdglück auf dem Dachboden, eine unbestimmte Hoffnung auf die große Erfindung. Tochter Hedvig und Gina (Agnes Richter) laufen zufriedengestellt mit, Vater Ekdal (Werner Klockow) hat sich schrullig eingerichtet. Noch hat Angreifer Gregers Werle nicht zugeschlagen, noch muss die labile Harmonie nicht verteidigt werden, noch muss Abwehrchef Dr. Relling nicht groß eingreifen.
Halbzeit. Unentschieden im Kampf um die Lebenslüge – Henrik Ibsens Lieblingsspiel. Was war zu beobachten? Verhaltenes, abwartendes Abtasten unter den Akteuren, niemand geht an seine Grenzen, keine klaren Fronten. Immerhin: Die Räume auf der Drehbühne werden sinnreich genutzt: ein ramponierter Wohncontainer, Küche, Fotoatelier, enge Bettkammer unter der Treppe, rummelig möbliertes Wohnzimmer, steile Treppe zum Dach. Da droben hockt flügellahm die Wildente. Das vielfach mit Bedeutung aufgeladene Symbol-Tier kümmert in einem sichtbar ärmlichen Kabuff dahin. Es markiert kein utopisches Rückzugsgebiet, keinen mystischen Ort, an dem sich Vater, Tochter und Großvater Ekdal aus der Wirklichkeit träumen könnten.
Zweite Hälfte, vierter Akt: Katrin Lindner hat die Pause zur Tonverschärfung und Temposteigerung genutzt. Jetzt lässt sie forciert Drama spielen. Jetzt ist Felix Zimmers Hjalmar von den Zweifeln an seinem Familienglück gepackt und lässt lautstark den Zwist mit sich selbst aus. Jetzt zeigt Volker Weidlichs Konsul Werle Kante, und Claudia Machts Frau Sörby darf schnippisch auftrumpfen. Jetzt nimmt Christian Kämpfer als Dr. Relling wuchtig und intensiv den Zweikampf mit Schönfelds Gregers an. Dessen ideale Forderung einer Abkehr von der Lebenslüge legt er als „Rechtschaffenheitsfieber“ und „Vergötterungsdelirium“ bloß und stellt ihm seine nüchterne These von der Lebenslüge als „stimulierendes Prinzip“ entgegen.
Zwei Frauen werden durch die Auseinandersetzung in die Opferrolle gedrängt: Agnes Richter zeigt eindrucksvoll, wie Hjalmars Frau Gina angesichts der Aufklärungen hilflos aus unschuldigem Staunen in schmerzvolles Dulden fällt. Und Nurit Hirschfeld verlässt still das kleine Paradies ihrer Kindheit: Sie gibt statt ihrer Wildente sich selbst den Todesschuss – in Katrin Lindners Inszenierung leider nicht dort oben auf dem Dachboden, wo sie ihre Idylle gefunden hatte.
Am Schluss: eine zerstörte Ehe und ein totes Mädchen. Katrin Lindner lässt ihre Figuren im tragischen Finale hilflos zurück. Bedauerlicher Kollateralschaden? Und Ibsen lasse, so die Dramaturgin Kerstin Daiber im Programmheft, beide Möglichkeiten des Lebens unbewertet nebeneinander stehen: sowohl Gregers’ absolutes Wahrheitsstreben als auch Dr. Rellings Einschätzung von der Lüge als Bewahrer des Glücks. Im Original liest sich das anders. Da gönnt der Dichter dem Arzt die letzte Runde mit der ironischen Voraussage über Hjalmars Zukunft: „Da sollen Sie mal sehen, wie er sich einpökelt in Rührung und Selbstbewunderung und Mitleid mit sich selbst.“ Skepsis dominiert.
Zur Kieler Spielzeiteröffnung im Schauspiel aber reagiert das Publikum mit respektvollem Beifall.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
Schreibe einen Kommentar