Fabio Ceresa präsentiert an der Kieler Oper eine ehrgeizige Konzeption von Rossinis „Guillaume Tell“
Von Christoph Munk
Kiel. Die Wiederkehr der Freiheit feiern die Menschen aus Unterwalden, Uri und der Schwyz im großen Schlusschor. Und Jemmy, der Sohn des Titelhelden, darf dazu mit breitem Bogenstrich das Violoncello spielen. Mit diesem Bild sagt Regisseur Fabio Ceresa überdeutlich, was ihm als Hauptmotiv von Gioachino Rossinis Grand Opéra „Guillaume Tell“ im Sinne steht: Freiheit heißt bei ihm die Freiheit zur Ausübung der Kunst, denn mit ihr gewinnt ein Volk seine Identität. In dieser Überzeugung bedient sich der italienische Gastregisseur mit großer Geste aller Mittel, die an der Kieler Oper zu Gebote stehen: das von Daniel Carlberg souverän geleitete Philharmonische Orchester, präzis vorbereitete, stets präsente Chöre, exzellent disponierte Solisten und die Fülle des Ausstattungsapparates. Jubelnder Premierenapplaus belohnte am Ende die Leistung aller Mitwirkenden.

Familienbild mit Celli: Szene mit (v.l.) Katerina von Bennigsen (Jemmy), Tania Jibladze (Hedwige) und Stefano Meo (Tell) im Vordergrund. (Foto: Olaf Struck)
Das Material: Die Revolte der Urschweizer Kantone gegen Habsburgs Besetzung: eine vage Überlieferung aus dem späten Mittelalter; ihr Held Wilhelm Tell: eine pure Legendenfigur; Friedrich Schillers Schauspiel: eine politisch-kämpferische Idealisierung; Rossinis Musikdrama: eine der Pariser Opernmode angepasste Bearbeitung – was bleibt von all den Varianten dieses Stoffes? Ein Mythos, in dessen Tiefe die Eidgenossen ihre Staatsgründung als unabhängige Alpenrepublik verankern. Niemand schert sich da um historische Wahrhaftigkeit. Schon gar nicht Fabio Ceresa, wenn ihm, wie erklärt, mit seiner Regiekonzeption vorschwebt, zu zeigen „was passiert, wenn die Kunst nicht so unterstützt wird, wie sie sollte“.
Auf die Frage, was dann passiert, gibt die erste Kieler „Tell“-Inszenierung seit fast 90 Jahren betörend und verwirrend viele Antworten. Ganz allgemein: Die Kunst reagiert mit außerordentlicher Vitalität. Musikalisch zunächst: Rossini gelang in seinem Spätwerk eine hochartifizielle Verbindung seines spritzigen, melodienseligen italienischen Stils mit den repräsentativ hingelegten, breit ausgeführten Schaustücken, Chören, Tänzen, Aufmärschen nach französischer Anforderung. Kiels Erster Kapellmeister Daniel Carlberg verschafft sich am Pult des hellwachen Philharmonischen Orchesters Raum und Zeit für die delikaten Details der Partitur, er gibt den Sängern Atem für schön ausgesungene Phrasen und dirigiert geschickt die flexiblen von Lam Tran Dinh austrainierten Sängergruppen, die in jedem Moment der Herausforderung der herausragenden Chorpartie gerecht werden.
Der musikalischen Opulenz steht die szenische Aufbereitung in nichts nach. Wer in Sergio Mariottis Bühnenbildern räumliche Orientierung sucht, wird mit Landschaftspanoramen vom Vierwaldstädter nebst Bergwelt und mit deckenhohen Bibliothekswänden befriedigt. Wer Giuseppe Palellas Kostümangebot historisch zuordnen will, landet im Ungefähren, Zeitlosen. Soviel ist klar: Besatzer Gesler und seine Soldateska tragen Schwarz und Grau, die Edlen schimmern eher in Gold, das Volk zum Feiern auch, sonst geht es in mattbunten, reinlichen Lumpen, .
Die bedeutsamsten Antworten aber geben die Requisiten. Die Bevölkerung in den Schweizer Bergen liebt das Musizieren. Schon während der Ouvertüre bilden sie pantomimisch ein Streicherensemble, bald von der Bühne verjagt. Geigen und Celli, das sind ihre wahren Waffen im Widerstand, die Saiten ihre Munition, jederzeit verwendbar auch als Bogensehnen im Kampf gegen die Obrigkeit. Kein Wunder, dass Gesler ihnen als Zeichen des Gehorsams die Instrumente abfordert und sie gegen Äpfel austauscht. Preisfrage: Reicht Ceresas Symbol-Setzung zurück bis ins biblische Paradies? Bedeutsam möchte alles, in dieser hoch mit Ideen aufgeladenen Inszenierung sein. Besonders deutlich und bitter trifft es Tells Sohn Jemmy: Den knüppeln gleich zu Beginn Geslers Schergen nieder. Mit schlimmen Folgen: Der Junge braucht fortan eine Krücke, doch Katerina von Bennigsen stellt ihn mit klarer, strahlender Frische auf die Bühne.

Einladung zum Apfelschuss: Gesler (Jörg Sabrowski) und Jemmy (Katerina von Bennigsen). (Foto: Olaf Struck)
Auch das zeichnet die Aufführung aus: Durch das Dickicht der Regieeinfälle leuchten durchweg respektable Gesangsleistungen: Tatia Jibladze gibt Tells Ehefrau Hedwige mit mütterlicher Wärme; Stefano Meo stattet die Titelpartie mit wuchtiger Baritongewalt aus, mit stabiler Stimmkraft halten sich Matteo Maria Ferretti (Walter Furst/Leuthold) und Timo Riihonen (Melcthal) an seiner Seite; Fred Hoffmann markiert mit hellem Tenor die Not des Fischers Ruodi. Dagegen setzen die Unterdrücker deutlich boshaft scharfe Töne: Martin Rainer Leipoldt als Rodolphe und Jörg Sabrowski mit einer eindrucksvollen Charakterstudie des Gesler.
Ihren eigenen Überlebenskampf, das Ringen um den Bestand ihrer Liebe zwischen den Fronten führen Arnold, der Sohn des alten Anführers Melcthal, und Mathilde, die habsburgische Prinzessin. Regisseur Fabio Ceresa siedelt das Paar gewissermaßen im Überbau der Freiheitsbewegung an. Denn Anton Rositskiy meistert nicht nur die stimmsportlichen Anforderungen in den Höhenlagen der heiklen Tenorpartie, er gestaltet vielmehr eine sensible Künstlerpersönlichkeit, zaudernd, zweifelnd, gefährdet. Agnieszka Hauser begleitet ihn als seine hingebungsvolle Muse mit strahlend schöner Gesangslinie.
Die Bewohner von Uri, Unterwalden und Schwyz mögen Bauern gewesen sein, Handwerker, Jäger, Fischer, Hirten. Sie einte einst zum Rütli-Schwur der Drang nach regionaler Souveränität, aus dem eine nationale Bewegung wuchs. Doch das ehrgeizige Regiekonzept verleiht den Eidgenossen eine weitere Leidenschaft: die Liebe zur Kunst, zu ihrer Musik, zu ihren Büchern. Fabio Ceresa zeigt sie als ein einig Volk von Künstlern und führt sie in ein kühnes Gedankengebäude, das keineswegs stabil ruht, denn es zeigt Risse, ein Zuviel an Brüchen, Widersprüchen, Zeigefingern. Interessant ist es allemal, sich auf den ehrgeizigen Plan einzulassen. Schließlich muss auch der Opernliebhaber seinen Blick nicht weit schweifen lassen, um zu entdecken, wo die Kunst und ihre Freiheit bedroht sind.
Info und Termine: www.theater-kiel.de
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